Liebe Leserin, lieber Leser!
Ich verbringe gerade meinen ersten Herbst in Italien. Seit dem 1. September bin ich Pfarrer der lutherischen Gemeinde von Turin. Zuvor war ich 13 Jahre lang Pfarrer einer fränkischen Landgemeinde südlich von Nürnberg (Bayern). Ich wohnte in einem Pfarrhaus aus Sandstein in einer äußerst ruhigen und idyllischen Umgebung. Vor dem Pfarrhaus befand sich eine weite Wiese, dahinter reihten sich die schönen und hohen Lindenbäume der einen Kilometer langen Schlossallee aneinander. Nur selten fuhr ein Auto vorbei, stattdessen hörte ich von morgens bis abends die Vögel zwitschern und singen. Das Haus war umgeben von einem Garten samt Birnen- und Apfelbaum. Neben dem Haus stand die schöne Fachwerkkirche St. Jakobus mit ihrem fränkischen Bauernbarock im Inneren, dahinter erstreckte sich der Friedhof und dann begann das weite Feld der Äcker und Wiesen, in der Ferne der Wald.
Jahr um Jahr war mir der Herbst ein beeindruckendes Schauspiel mit seinen vielerlei Farben, die die Blätter der Lindenbäume zierten. Nach und nach fielen die Blätter ab, die Bäume wurden kahl und gaben die Sicht in die Ferne frei. Das alles spielte sich in der Zeit des Kirchenjahres ab, die wir das „Ende des Kirchenjahres“ nennen. Wir gedenken unserer menschlichen Vergänglichkeit, der Brüchigkeit und der Unvollkommenheit unseres Lebens. Das Naturschauspiel vor meinem Pfarrhaus war mir ein Spiegelbild unseres Lebens.
Aber mitten hinein in unser Vergehen, gerade mitten in dieser Zeit des Kirchenjahres, entwickelt die Botschaft des Evangeliums ihre besondere, tröstliche Kraft. Gott spricht es hinein in unsere Vergänglichkeit. Er spricht es hinein auch in unsere Trauer, die gerade in der dunkleren Jahreszeit und um den Ewigkeitssonntag mit seinem Totengedenken herum viele Menschen stark empfinden. Gott zeigt uns: Er ist mit dieser Welt so, wie sie jetzt ist, nicht am Ende. Er hat für sie ein Ziel vorgesehen. Es ist die Befreiung dieser Welt, seiner Schöpfung, von allem Schmerz, Leid, Vergänglichkeit, Tod und Sünde. Es ist ihre Aufnahme in sein Reich, ihre Vollendung in seinem Reich. Dieses Ziel erbitten wir mit den Worten Jesu, wenn wir im Vaterunser beten: „Dein Reich komme!“
Wir können es noch konkreter sagen: Das Ziel Gottes mit dieser Welt trägt den Namen Jesus Christus. Jesus als der Sohn Gottes ist es, der uns aus Gottes Zukunft entgegenkommt. Er ist es, der schon hier und jetzt Dich und mich tröstet und hält, wenn wir traurig sind, wenn wir schwach werden, krank sind, unsere Gebrechlichkeit fühlen, wenn wir versagen und in Schuld fallen, wenn scheinbar alles um uns herum auseinanderzubrechen droht. Er ist da und fängt uns auf. Er hält uns selbst im Sterben und im Tod. Er wird einmal uns und diese Welt an Gottes Ziel führen, in Gottes Reich hineinführen. Er tut das kraft seines Todes am Kreuz und kraft seiner Auferstehung am Ostermorgen. Jesus Christus ist in Person das Ziel Gottes mit dieser Welt.
Kurt Marti dichtet dementsprechend:
„Der Himmel, der kommt, das ist der kommende Herr, wenn die Herren der Erde gegangen.
Der Himmel, der kommt, das ist die Welt ohne Lied, wo Gewalttat und Elend besiegt sind.“
(Evang. Gesangbuch Nr. 153,2-3)
Wo wohnst Du? In Italien, in Deutschland, anderswo in der Welt? Kannst Du das Naturschauspiel des Herbstes verfolgen? Meine Sicht auf die Natur ist in Turin deutlich eingeschränkter als in Franken. Aber wo auch immer ich hier einen Baum in Herbstfarben oder einen ganz kahlen ohne Blätter sehe und damit meine Vergänglichkeit verbinde, denke ich an die Kraft und den Trost des Evangeliums: Jesus Christus ist auf dem Weg zu uns und in diese Welt. Ich bete spontan: Ja, „dein Reich komme!“ Ich wünsche Dir, dass das Evangelium in diesen Tagen auch Dich tröstet und stärkt und Du die Worte des Vaterunsers froh, mutig und erwartungsvoll sprechen kannst.
- November 2022, Pfarrer Tobias Brendel (Turin)