Bekenntnisse des 20. Jahrhunderts
In ihren Bekenntnissen formuliert die Kirche die Grundlagen ihres Glaubens und ihrer Lehre. Bestimmte historische Situationen, z. B. der Kirchenkampf zur Zeit des Nationalsozialismus, machen es immer wieder notwendig, sich von einer Verzerrung des Evangeliums abzugrenzen.
Wer in der evangelischen Kirche ein Amt übernimmt, verpflichtet sich auf die Heilige Schrift und die Bekenntnisse der Kirche, wobei diese – evangelisch verstanden – nur die Aussagen der Bibel aktualisieren. In der Zeit der Reformation haben die Protestanten ihr Verständnis des Glaubens in verschiedenen Bekenntnissen dargelegt: So ist bis heute etwa für die lutherische Kirche das Augsburger Bekenntnis von 1530 maßgebend und für die reformierte Kirche der Heidelberger Katechismus von 1563.
Bekenntnisse formulieren einen Standpunkt. Immer wieder gab es in der Kirchengeschichte Herausforderungen, die eine Neubesinnung auf die Grundlagen des Glaubens und der Lehre notwendig machten. Im 20. Jahrhundert entstanden so im deutschen und europäischen Protestantismus drei wichtige Bekenntnistexte, die bis heute in der weltweiten Ökumene zu Recht nicht nur theologisch, sondern auch im Verhältnis der Kirchen zueinander eine ganz entscheidende Rolle spielen. Die vollständigen deutschen Texte aller drei Bekenntnisse lassen sich u.a. auf der Homepage der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nachlesen. Man findet sie dort unter der Registerkarte „Glauben“ → „Grundlagen“.
Die Barmer Theologische Erklärung
Die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode in Barmen vom 31. Mai 1934 ist die zentrale theologische Äußerung der Bekennenden Kirche unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1933-1945. Sie richtete sich gegen die falsche Theologie und das Kirchenregime der so genannten “Deutschen Christen”, die damit begonnen hatten, die evangelische Kirche der Diktatur des “Führers” Adolf Hitler anzugleichen. Zu den Forderungen der „Deutschen Christen“ gehörten damals die Einführung des Führerprinzips in der Kirche, der Ausschluss von „Nicht-Ariern“ aus dem Pfarramt, die Ablehnung des Alten Testaments und die Verkündigung Jesus als einer „heldischen Rettergestalt“ an Stelle des Gekreuzigten. Dagegen bezieht die Barmer Theologische Erklärung Stellung, die wesentlich von Theologen wie Karl Barth und Hans Asmussen formuliert wurde. Jede der sechs Thesen ist so aufgebaut, dass zunächst Worte der Heiligen Schrift vorangestellt werden, dann der eigene Standpunkt formuliert wird und schließlich in Verwerfungssätzen die falsche Lehre der „Deutschen Christen“ abgelehnt wird.
Der Spitzensatz der Barmer Theologischen Erklärung aus These 1 lautet: “Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.” Von diesem Bekenntnis zum „Solus Christus“-Prinzip der Reformation aus werden alle anderen Thesen entfaltet. Dass die Kirche sich nicht nur in ihrer Lehre, sondern auch in ihrem Aufbau allein am Evangelium zu orientieren hat und nicht an anderen Modellen von Herrschaft, mahnt die Barmer Theologische Erklärung unmissverständlich an. Gerade für Kirchen, die unter dem Druck von Diktaturen leben, ist sie so zu einem wichtigen Halt geworden. In vielen protestantischen Kirchen fand die Barmer Theologische Erklärung auch Eingang in die Bekenntnisschriften oder wird im Anhang der Gesangbücher abgedruckt.
Die Stuttgarter Schulderklärung
„Simul iustus et peccator“ – nach reformatorischem Verständnis sind wir Menschen immer beides: Gerecht vor Gott durch den Glauben an Jesus Christus, aber eben immer auch Sünder, solange wir in dieser Welt leben. Umkehr und Vergebung sind deshalb für die protestantische Theologie kein einmaliger Akt, sondern ein lebenslanger Prozess, den wir als Menschen immer wieder nötig haben.
Gerecht und Sünder zugleich – was für jeden Einzelnen von uns gilt, gilt auch für die Kirche. Ist sie doch nach evangelischem Verständnis nichts anderes als die Versammlung derer, die an Jesus Christus glauben. Deshalb muss sich auch die Kirche immer wieder die Frage stellen, wo sie in ihrer Geschichte schuldig geworden ist, wo sie auf die Vergebung Gottes angewiesen ist und wie sie zu einem Neuanfang aufgerufen wird.
Bis zum Ende des I. Weltkriegs 1918 waren die evangelischen Kirchen in Deutschland sehr eng mit den jeweiligen Landesherren verbunden – oft wird die Beziehung zwischen beiden als „Ehe von Thron und Altar“ beschrieben. Diese jahrhundertelange Geschichte hat die Haltung der Evangelischen Kirche bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein geprägt. Nur wenige Pfarrer wie Dietrich Bonhoeffer oder Martin Niemöller leisteten wirklich Widerstand gegen das Hitler-Regime. Auch die Bekennende Kirche wehrte sich zwar gegen staatliche Einmischungen in ihre Angelegenheiten, schwieg aber weitgehend zu den nationalsozialistischen Verbrechen, vor allem zum Mord an sechs Millionen Juden in Europa und zur Gewalt in den während des II. Weltkriegs besetzen Gebieten.
Nach Kriegsende, im August 1945, formierte sich die Evangelische Kirche in Deutschland neu. Im Oktober fand dann in Stuttgart eine Tagung des neugebildeten Rates der EKD statt, zu dem unter anderen der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, Martin Niemöller und der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann gehörten. Auch Vertreter aus anderen evangelischen Kirchen Europas waren angereist, unter ihnen Karl Barth. Ziel dieser Begegnung war es, die ökumenische Gemeinschaft zwischen dem deutschen Protestantismus und den anderen reformatorischen Kirchen Europas wiederherzustellen. Dabei ging es u. a. auch um die Frage, wie die anderen Kirchen konkret den Menschen im zerstörten Nachkriegsdeutschland helfen konnten. Die Vertreter der Ökumene forderten allerdings von der deutschen Seite ein klares Bekenntnis der Mitschuld und der Verantwortung für die Gräueltaten, die Deutschland während des Krieges verübt hatte. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 18./19. Oktober 1945 steht die Evangelische Kirche in Deutschland zu dieser Mitschuld, verspricht eine innere Reinigung und verpflichtet sich zu einem Neuanfang. Ihr Spitzensatz lautet: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Die Vertreter der europäischen Kirchen nahmen dieses Schuldbekenntnis an und waren bereit, neue freundschaftliche Verbindungen zur EKD zu knüpfen.
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis löste zum Teil sehr heftige und kontroverse Diskussionen aus. Die einen lehnten es ab, weil sie darin ein Bekenntnis zur „Kollektivschuld“ der Deutschen sahen. Anderen ging das Bekenntnis nicht weit genug, weil etwa der Mord an den europäischen Juden gar nicht erwähnt wurde. Bleibende Bedeutung hat das Stuttgarter Schuldbekenntnis aber dadurch, dass sich hier eine Kirche zu ihrem konkreten geschichtlichen Versagen bekennt. So wurde sie zum Vorbild für andere Kirchen, z. B. in Südafrika nach Ende der Apartheid oder in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, zur eigenen geschichtlichen Verantwortung zu stehen und Gott um einen Neuanfang zu bitten.
Die Leuenberger Konkordie
Gemeinsam ist allen protestantischen Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, die Neubesinnung auf das freimachende Evangelium von Jesus Christus. Aber schon bald nach dem reformatorischen Aufbruch im Anschluss an Luthers Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517 spalteten sich die evangelischen Kirchen teils aus theologischen, teils aber auch aus politischen Gründen in verschiedene Richtungen auf. So wurde etwa die Täuferbewegung ausgegrenzt oder der Graben zwischen lutherischer und reformierter Theologie nach dem Scheitern des Marburger Religionsgesprächs von 1529 immer tiefer. Calvinisten und Lutheraner bekämpften sich über Jahrhunderte hinweg heftig, andere evangelische Gruppierungen wurden zur Auswanderung aus Europa gezwungen.
Erst seit der Aufklärung begannen die konfessionellen Unterschiede keine so große Rolle mehr zu spielen. Im von Preußen dominierten Deutschland des 19. Jahrhunderts gab es mit der Gründung der Kirchen der Altpreußischen Union einen Einigungsversuch zwischen Lutheranern und Reformierten von oben. Aber auch die Entkirchlichung weiter Teile der Bevölkerung durch die Industrialisierung sowie die beginnende Überseemission führte dazu, dass die verschiedenen Konfessionen enger zusammenzuarbeiten begannen. Anfang des 20. Jahrhunderts fanden dann auch erste ökumenische Konferenzen statt, die auch zur Gründung von konfessionsübergreifenden Organisationen führten. Dazu kamen die Erfahrungen vieler Kirchen unter den Diktaturen des 20. Jahrhunderts und der beiden Weltkriege, die am Ende die verschiedenen Konfessionen enger zusammenführten. Auch die theologischen Fragen, die im 16. Jahrhundert noch zu einer Aufspaltung in verschiedene protestantische Konfessionen geführt hatten, wurden so geklärt, dass sie keine kirchentrennende Bedeutung mehr hatten.
Vom 12.-16. März 1973 wurde auf dem Leuenberg bei Basel der endgültige Text der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa erarbeitet und den beteiligten Kirchen übergeben. Damit wurde die Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen, reformierten und den aus ihnen hervorgegangenen unierten Kirchen sowie den ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder ermöglicht.
Mit der Leuenberger Konkordie haben lutherische, reformierte und unierte Kirchen Europas in der Bindung an die sie verpflichtenden Bekenntnisse und unter Berücksichtigung ihrer Traditionen die theologischen Grundlagen ihrer Kirchengemeinschaft dargelegt und einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewährt. Dies schließt Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und die gegenseitige Anerkennung der Ordination ein. Die Leuenberger Konkordie ist als Dokument ökumenischer Gemeinschaft von allen Kirchen angenommen worden.
Die Grundeinsicht der Leuenberger Konkordie lautet: „Die Kirche ist allein auf Jesus Christus gegründet, der sie durch die Zuwendung seines Heils in der Verkündigung und in den Sakramenten sammelt und sendet. Nach reformatorischer Einsicht ist darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend. Von diesen reformatorischen Kriterien leiten die beteiligten Kirchen ihr Verständnis von Kirchengemeinschaft her.“
Die Leuenberger Konkordie wurde so zu einem Beispiel einer „Ökumene der Vielfalt“, die die geschichtliche Prägung der jeweiligen Kirchen achtet, aber durch Betonung der gemeinsamen Verankerung im Evangelium Jesu Christi volle Gemeinschaft untereinander möglich macht.