Rom, 8. Juli 2024 – Warum sollten wir uns für Wahlen interessieren? Für Politik oder ähnliche Themen? In den Kirchen spüren wir oft eine Entfremdung der Religionen von „säkularen“ Themen.
Als ob man sagen wollte: Wir beschäftigen uns mit dem Geist, andere und anderswo beschäftigen sie sich mit Politik.
Es gibt eine uneingestandene, weit verbreitete und schleichende Versuchung, dass die Kirchen, obwohl sie Teil der Gesellschaft sind, sich irgendwie aus Politik heraushalten. Eine Art Exterritorialität, die eine Fremdartigkeit gegenüber der Welt hervorruft, in die der Herr uns gestellt hat.
Diese Versuchung ist auch in den protestantischen Kirchen anzutreffen. Die Kirchen verarmen an Debatten, an Ideen, an Konfrontationen über die Gegenwart und die Zukunft und geben es auf, einen Qualitätssprung gegenüber dem uns anvertrauten Wort zu machen. Mit anderen Worten, sie geben es auf sich dafür einzusetzen, damit der Glaube nicht nur etwas für Menschen eines gewissen Alters bleibt, sondern sich auf das konkrete, reale Leben eines jeden bezieht.
Natürlich erfordert die Verantwortung von uns Christen eine zusätzliche Anstrengung: ein Bemühen um die Fähigkeit, die Welt und die Gesellschaft zu lesen und zu verstehen, aber auch die Reife, die notwendig ist, um sicherzustellen, dass Parteitriebe und ideologische Gegensätze nicht in die Gemeinden überschwappen, in denen wir alle in Christus eins sind.
Es geht also nicht darum, die Gemeinden zu Zweigstellen dieser oder jener Partei zu machen. Es geht darum zu verstehen, dass auch die Komplexität der Welt zu uns gehört, als ein Geschenk Gottes: des Denkens, der Kritik, der Reflexion.
Stimmen in der Wüste?
Dieser europäische Sommer war geprägt von Momenten, in denen die Stabilität der Demokratie auf die Probe gestellt wurde: in der Union, aber auch in einigen europäischen Ländern. Und der Herbst wird mit Wahlen in einem anderen großen westlichen Land beginnen: den Vereinigten Staaten.
Es kann nicht sein, dass zuerst die Erwartungen und dann die Folgen der Wahlen abgeschoben werden als ein Thema, das nicht in den Zuständigkeitsbereich der Kirchen fällt.
Das war früher nicht so und ist auch heute nicht so. In Deutschland haben die Protestanten (Lutheraner und Reformierte) im Wahlkampf zu den Europawahlen eine starke Position gegen die Gefahr eines Abdriftens in den Rechtsextremismus im politischen System eingenommen. Seit Monaten prangern deutsche Protestanten die Gefahr an, dass eine bestimmte politische Kraft, die AfD, das Land in eine dramatische und gefährliche Phase seiner Vergangenheit zurückführen wird.
Die Evangelische Kirche in Österreich hat sich in die gleiche Richtung bewegt. Aber auch, und das ist vielleicht weniger bekannt, die Vereinigte Protestantische Kirche Frankreichs.
Mit einer Besonderheit. Die Fédération Protestante de France, in der seit 2012 die Reformierte Kirche und die Evangelisch-Lutherische Kirche Frankreichs zusammengeschlossen sind, hat ihre Besorgnis über die Gefahren für die Demokratie angesichts des Vormarschs der extremen Rechten nicht nur mit Blick auf die Europawahlen bekräftigt, sondern auch durch Eingreifen in die Debatte im Vorfeld der Parlamentswahlen, die am Wochenende mit der Stichwahl endeten.
Welche Demokratie für Gläubige?
Es gibt eine entscheidende Frage in unserem Leben und für die Zukunft des evangelischen Zeugnisses in den Gesellschaften. Und zwar, welches Modell der Demokratie wir verwirklichen wollen.
Diese Frage ist umso dringlicher und bedeutsamer, je gefährlicher die zunehmend sinkende Bürgerbeteiligung geworden ist. Auch die kirchliche!
Der öffentliche Raum ist nicht der Ort der anderen, er ist auch unser Raum. Darin bringen wir das Recht zum Ausdruck, unseren Glauben zu bezeugen und zu zeigen, wie dieser Glaube uns und das Umfeld, in dem wir leben, verändern kann.
Und dieser Raum ist kein neutraler, aseptischer, abgeschirmter Ort. Der Aufbau der Existenz als Lutheraner in Italien ist das Ergebnis eines langen Weges, der bestimmt nicht ohne Schwierigkeiten verlief. Aber es ist auch ein Weg der Begeisterung, der Leidenschaft, auf dem wir uns mit Zuversicht und Hoffnung engagiert haben und engagieren.
Hoffnung als evangelisches und politisches Thema
Ja, denn der demokratische Raum soll auch für dieses allzumenschliche Bedürfnis nach Hoffnung wieder nutzbar gemacht werden. In einer Gesellschaft, in der vieles darauf hindeutet, dass sie müde, desillusioniert und verzweifelt ist.
Deshalb können wir es uns als Hoffnungsträger, die in der Lage sind, die Gegenwart gründlich und mit Verstand zu lesen, und die darauf achten, die Grenzen und Zäune gegensätzlicher ideologischer Zugehörigkeiten zu verlassen, um das offene Meer des Teilens zu erkunden, nicht leisten, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Oder, schlimmer noch, etwas als für uns fremd zu bezeichnen, das wir als Antagonist zum Glauben empfinden: die Politik.
Paulus bekräftigt dies in seinem Brief an die Römer mit dem für ihn typischen Gespür: wie Abraham, hoffen wider alle Hoffnung.
Die Vorstellung, dass wir an einem Epilog der Menschheitsgeschichte angelangt sind, aus dem nur Abscheulichkeiten und Tragödien entstehen können und von dem wir uns darüber hinaus distanzieren, kann sich daher als fataler Fehler erweisen.
Der deutsche Philosoph Walter Benjamin warnte: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe“.
Benjamin befürchtete, dass „alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik in einem Punkt gipfeln. Dieser eine Punkt ist der Krieg“.
Heute werden unsere Demokratien durch diese konfliktverherrlichende Ästhetik zutiefst erschüttert und auf eine harte Probe gestellt: in der Ukraine wie in Gaza.
Wir sind Lutheraner, wir sind Protestanten, die Komplexität der Welt als Teil der Schöpfung Gottes fasziniert uns. Einfachheit ist uns nicht fremd, aber wir sollten uns vor Vereinfachung hüten.
In jedem Zeitalter und unter jedem politischen Regime – der Glaube weicht nicht zurück. Heute wollen auch wir nicht mehr zurückweichen, im Bewusstsein, dass diese Möglichkeit des gleichzeitig gepredigten und praktizierten Zeugnisses besteht, wenn wir auch wissen, wie wir damit umgehen sollen.