Rom, 16. Oktober 2024 – Am vergangenen Montag ist Pfarrer Jürg Kleemann in das Haus des Vaters zurückgekehrt. Pastor Kleemann, der über ein Jahrzehnt lang Vizedekan der ELKI war, wurde am 8. August 1934 in Gauting bei München geboren. Er war also vor Kurzem erst neunzig geworden. Nach Abschluss seines Studiums war er wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Praktische Theologie (1968-1975) an der Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München.
1975 kam er von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern nach Italien in die Lutherische Gemeinde von Florenz, wo er am 1. März die Pastorenstelle antrat.
Fünfmal wurde der dreijährige pastorale Dienst in Florenz erneuert, 15 Jahre lang war er hier insgesamt Pfarrer, bevor er neben der Betreuung der Kirche in der toskanischen Stadt auch die Betreuung der Kirche in Venedig übernahm.
22 Jahre lang war er als Gesandter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Italien tätig und am Ende dieses langen Zeitraums weiterhin als Seelsorger in Venedig und Florenz.
In der Zwischenzeit wurde Kleemann 1983 als Vizedekan der ELKI gewählt, ein Amt, das er bis 1998 innehatte. In dieser Eigenschaft hatte er die Gelegenheit, alle vorbereitenden Arbeiten, die Ausarbeitung und die Unterzeichnung des Gesetzes Nr. 520 vom 29. November 1995, der Vereinbarung (Intesa) zwischen dem italienischen Staat und der ELKI, mitzuverfolgen.
Ein Hindernislauf
In einer Veröffentlichung der ELKI1 beschrieb Kleemann diesen Weg als „Hindernislauf“.
„Ich finde mich mittendrin vor, […] in langen Nächten, mit endlosen Gesprächen, Sitzungen und Reisen“ wie in einer „Art Goldrausch“.
Kleemann verfolgte diesen historischen Abschnitt der ELKI mit großer Leidenschaft. Er, der Theologe und Pfarrer und zudem Ausländer in Italien, nahm die, wie er es nannte, „italienische Herausforderung“ an, „unser Heimatrecht, aber auch unsere Pflichten in Italien ernster zu nehmen: In der Durchsetzung unserer Kirche als staatlich anerkannte Rechtsperson (seit 1962), in gezielter Reflexion und Förderung unserer Aufgaben in diesem Land (z.B. mit Gemeindeakademie, Ökumene und Pressedienst), und in engerer Zusammenarbeit mit den anderen protestantischen Konfessionen in Italien“.
In seinem Engagement erkannte Kleemann, wie sehr „unsere Glaubwürdigkeit“ als Lutheraner und lutherische Kirche auf dem Spiel stand.
Unser Beitrag in Italien
„Es ging nicht ums Aushandeln von Finanzvorteilen, sondern auch um unseren Beitrag als Kirche […]: für eine demokratische, laizistische Verfassung, in Fortsetzung einer großen europäischen Geschichte, die mit dem Namen Luthers sich verbindet“.
Eine Arbeit im Dienste einer Kirche, die eine Gemeinschaft als Ganzes ist, die ELKI, und die mit einer der prägenden Eigenschaften dieses Pfarrers erledigt wurde: dem Studium. Die Vertiefung des italienischen und katholischen Kirchenrechts, um der ELKI eine Anerkennung zu ermöglichen, die schon in Kleemanns Vision über eine bloße Unterschrift auf einem Formular hinausging.
Und vielleicht ist es kein Zufall, dass der Herr ihn genau in dem Jahr zu sich gerufen hat, in dem sich die Gründung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien zum 75. Mal jährt, und knapp ein Jahr vor dem bevorstehenden 30-jährigen Jubiläum des Inkrafttretens der Intesa.
Kleemann hat zweifellos dazu beigetragen, dass die ELKI nicht nur ein Akronym für Fachleute und „Kirchenleute“ ist, sondern sich zu einer juristischen Person entwickelt hat, die im Kontext und in den Normen dieses Landes verwurzelt ist.
Seine Schriften, seine Memoiren offenbaren diese Leidenschaft für eine Kirche, die ihn aufgenommen hatte und in der er sich als Teil und Diener fühlte, verantwortlich für die vielfältige Gnade Gottes, die uns auf unergründlichen und neuen Wegen ruft.
„Zum ersten Mal“, erinnert sich Kleemann, „widmeten sich Italiens Rechtsgelehrte den religiösen Minderheiten. Unter diesen uns Lutheranern. […] Zum ersten Mal liegt auch unsere revidierte (1974) Verfassung in einer Veröffentlichung vor. Und diese konnten wir druckfrisch als Präsent der Regierungskommission überreichen. Da zeigte sogar der undurchdringliche Präfekt der Kirchenabteilung im Innenministerium einen Anflug von überraschter Neugier: Der Band enthielt auch seinen Beitrag für Urbino! Schwarz auf weiß, das tat beiden gut: dem Ministerium und Italiens Lutheranern“.
Aus den Hütten in die Paläste
Der Pfarrer, Theologe und schließlich auch Gelehrte des italienischen Rechts hatte sich seit einiger Zeit in der Toskana zurückgezogen. Aber er hatte nicht aufgehört, die Angelegenheiten der Kirche zu verfolgen, die seine Kirche in Italien war und geblieben ist.
„Manchmal“, schreibt Kleemann, „zwischen 1986 und 1992, hatte ich resigniert. Würden wir die Schwelle zum Palast des Ministerpräsidenten jemals überschreiten? In den Hütten der ELKI war der Zweifel eh zuhause. Manche sprachen von der sogenannten Intesa wie von einer Erfindung ehrgeiziger Kirchenfürsten. Andere beobachteten verdutzt, dass mit jedem neuen Erinnerungsschreiben, das Synodalpräsidentin Hanna Franzoi abschickte, der angesprochene Ministerpräsident stürzte. Ein ursprünglich geplantes Gesetz zur Religionsfreiheit blieb in der Schublade. Stattdessen, im letzten Moment (Mai 1992) berief Ministerpräsident Andreotti die neue Kommission ein. Sein Nachfolger Giulio Amato ließ sofort an den runden Tisch bitten: Für Baptisten, Lutheraner, Zeugen Jehovas hatte die Stunde der Intesa geschlagen. […] Die Regierungskommission hatte es eilig, mit uns abzuschließen. Dann waren Synode und Parlament dran. Und wir kehren wieder in unsere Hütten zurück. Hoffentlich geht’s uns dabei nicht wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau2!”
Verlassen hat uns ein Mann des Glaubens, ein entschlossener Seelsorger und auch ein großer Eisenbahnliebhaber. Vielleicht wegen der häufigen und mehr oder weniger langen Reisen, die seine Arbeit erforderte. Ein Mann, der lange Spaziergänge und Gebete in der Natur des Engadins liebte.
Wenn Sie uns Ihre Erinnerungen, Anekdoten und Gedanken zum Tod von Pastor Kleemann mitteilen möchten, schreiben Sie bitte an comunicazione@chiesaluterana.it.
- Dokumente und Erinnerungen an die Intesa, hier (italienisch und deutsch) ↩︎
- Vom Fischer und seiner Frau, Br. Grimm ↩︎
Erinnerungen
Lieber Jürg, mit den Worten von Sant’Agostino beginne ich: “Ich bin nur auf der anderen Seite:
als wäre ich im Nebenzimmer versteckt. Ich bin immer ich und du bist immer du….”
Mein langjähriger Freund, Pastor, Mentor, Berater und Unterstützer, immer mit einem offenen Ohr für die schönen und weniger schönen Begebenheiten aus deinem geliebten Venedig.
Über 40 Jahre Freundschaft, und jetzt bei mir und vielen von uns “Alten” venezianischen Mitgliedern und Freunden der Gemeinde ein grosses Vakuum hinterlässt.
Nie werden wir vergessen, dass Du den “Staub” aus unserer Kirche entfernt und die Türen geöffnet hast, auch für “Andersdenkende”. Deine Predigten sind Geschichte, du wecktest uns damals junge Menschen zum Nachdenken, auch zum Zweifeln, zum Nachfragen auf. Viele Gespräche und Diskussionen, ganz besonders erinnere ich mich an deine Diskussionsgottesdienste. Unvergessen, als die schon in die Jahre gekommende Wiener Malerin Ilse Bernheimer aufstand und den Herren der Gemeinde paroli bot. Es gäbe so viel zu sagen und zu schreiben. Aus den vielen Nachrufen geht hervor, was Du für die Ökumene in unserer Stadt bedeutet hast, sowie für die Intesa mit dem Italienischen Staat, eine lange Liste könnte folgen.
Der von Dir eingeführte Gottesdienst auf der Friedhofsinsel San Michele, Du hast uns dadurch unsere Vorgängerinnen und Vorgänger näher gebracht, aus dem Totenbuch ihre Geschichten erzählt.
Unvergessen auch das Wochenende auf der Insel San Francesco del deserto, Die Franziskaner bewirteten uns und morgens um 5 wurden wir mit Glocken und Gesang geweckt und wir haben sie dafür um 22 Uhr mit dem “Gute Nachtgesang” in den Schlaf begleitet. Meditation und Gespräche blieben für Jahrzehnte in unserer Erinnerung und taten uns gut.
Ja, und dann die Ökumene, Deine Freundschaft mit dem grossen Gelehrten Amos Luzzati der jüdischen Gemeinde, die Freundschaft mit Venedigs bestem Patriarchen Marco Cè, Freundschaft mit den Suore Casa Cardinal Piazza, besonders Suora Gioaccomina, wo Du so gut untergebracht warst während Deiner Venedigwochenenden. Bis heute mit Dir verbunden im Gebet.
Freundschaft mit den Kollegen von gegenüber, der Kirche von SS Apostoli, mit den Strassenfegern, den Trattorien des Canareggio und nicht zu vergessen die Freundschaft mit unseren venezianischen Ehemännern. Um nur einige zu nennen, allen voran mein Sergio, Giacomo Cacciapaglia, Sergio Franzoi,
Giovanni Sarpellon, Erich Kuby, Dimitri Pitteri, mit viel Verständnis für unsere “gemischten” Ehen, die auch Dir nicht fremd waren.
Ich könnte ewig weiterschreiben, möchte Dir aber nur noch sagen DANKE, dass Du mein lieber Freund, Pastor, Mentor, Berater und Unterstützer warst. Ich werde Dich nie vergessen und mich daran halten, was Du mir immer wieder eingeprägt hast in Bezug auf unsere Gemeinde:
Gudrun, denk daran, Pfarrer kommen und Pfarrer gehen, aber Deine Gemeinde bleibt bestehen. Das ist eine Hoffnung.
Gudrun Romor, Venedig
Meine Erinnerung an Pfr. Jürg Kleemann möchte ich in 3 Punkte gliedern:
1. Persönlichkeitsbild
2. Gemeindearbeit
3. Ökumenisches Engagement
Zu 1: Jürg Kleemann fiel schon von Weitem durch seine grosse und schmale Gestalt auf. Seine leicht nach vorn gebeugte Haltung drückte eine ehrliche Zuwendung aus, mit der er seinen Mitmenschen entgegentrat. Er war charmant, empathisch, sehr gesellig, liebte ernste aber auch scherzhafte Gespräche. Bei vielen Gemeindegliedern war er ein gern gesehener Gast, der gutes Essen, ungezwungene Unterhaltung und eine heimische Atmosphäre genoss. Zu seinen vielen positiven Eigenschaften, die ihn so liebenswert machten, gehörten großes Einfühlungsvermögen; er war Seelsorger durch und durch, ein guter Psychologe und Pädagoge. Für Letzteres steht das von ihm oft ausgesprochene Wort von der „Mündigkeit der Christen“, vom „aufrechten Gang“ und vom Mut zur eigenen Meinung.
Zu 2: Jürg Kleemann war überzeugter Gemeindepfarrer, dessen Aufgabe er im „Weinstock“ mit und unter den Reben sah. Neben den 14tägigen Gottesdiensten erinnere ich mich gern an so manche Wochenendklausur in und um Venedig, auch mehrere Male zusammen mit Mitgliedern seiner florentiner Gemeinde. Unvergessen geblieben sind mir seine Predigten, die nie langweilig waren, die mit überraschenden Gedankengängen aufmerken ließen, Erstaunen oder Erheiterung hervor riefen und uns „Zuhörern“ gelegentlich ein Schmunzeln aufs Gesicht malte.
Erinnern möchte ich an zwei besondere Ereignisse: Der Fernsehgottesdienst in unserer Kirche, organisiert und ausgestrahlt vom 2. deutschen Fernsehen (ZDF) und ein Gottesdienst nach einer langjährigen Restaurierung der Kirche Anfang der 1990er Jahre, zu dem der damalige Patriarch von Venedig Marco Cè, der Bürgermeister und Philosoph Massimo Cacciari und der Generalkonsul Engelhardt aus Mailand eingeladen waren.
Zu 3: Bei Jürg Kleemanns Amtseintritt in den Gemeinden Florenz und Venedig herrschte nach dem 2. vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche Aufbruchstimmung. Auch in Venedig hatte sich eine Gruppe des SAE (Segretariato Attività Ecumeniche) gebildet, die Kontakt zu den anderen christlichen Konfessionen Aufnahmen. Jürg Kleemann war ein gesuchter und beliebter Gesprächspartner und nach der Gründung des ersten Christenrats in Italien im Jahr 1993 vertieften sich die Kontakte mit regelmäßigen Begegnungen. In den 80er Jahren wurden zusammen mit dem SAE Kontakte zur jüdischen Gemeinde aufgenommen, die 1989 in die Einrichtung des „Jüdisch-christlichen Gesprächs“ mündeten, bei der Jürg Kleemann eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Diese Begegnungen (4-5 Mal im Jahr) finden bis heute in der evangelischen Kirche statt. Dazu werden werden namhafte jüdische und christliche Referenten eingeladen.
Abschließend soll noch erwähnt werden, dass Jürg Kleemann vor seinem Abschied seine venezianische Gemeinde noch in sichere Wasser steuern wollte. Auf seinen Vorschlag und seine Insistenz hat die ELKI 2002 einen neuen Pfarrstellenplan verabschiedet, der Venedig zusammen mit der Kurseelsorge Abano Terme zur eigenständigen Pfarrstelle dekretierte.
Lore Strecker Sarpellon, Venedig