Erri De Luca wurde vor einigen Jahrzehnten in Neapel geboren. Er ist Schriftsteller, Dichter und Essayist und zählt zu den bedeutendsten Autoren in Italien und darüber hinaus. Seine Bücher wurden weltweit bisher in mehr als dreißig Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche wie z. B. die Romane Das Meer der Erinnerung, Der Himmel im Süden, Der Tag vor dem Glück und Montedidio.
In seinem sehr intensiven Leben war De Luca in zahlreichen Berufen in Italien und im Ausland tätig. Außerdem zeichnet ihn sein großes humanes Engagement aus.
Er erlernte mehrere Sprachen, wie zum Beispiel Althebräisch, und ist ein aufmerksamer und profunder Kenner der Bibel, von der er einige Bücher ins Italienische übersetzt hat: Exodus, Jona, Kohelet, das Buch Rut und das Buch Esther. Als Dramatiker und Beobachter der zeitgenössischen Gesellschaft hat er viele Reisen unternommen und seine vielfältigen Erfahrungen in Gedichten und Romanen verarbeitet.
In dieser Adventszeit hat Gianluca Fiusco (Kommunikationsbeauftragter der ELKI) ihm einige Fragen gestellt, mit besonderem Augenmerk auf die Bedeutung von „Geburt“ in der jüdischen Tradition und heute, in einer vom Krieg gezeichneten Gesellschaft.
Viel Freude beim Lesen!
G: Im Judentum hat jeder Moment des Lebens seine eigene Transzendenz, seine eigene Heiligkeit: Einem Midrasch aus dem Talmud zufolge wird das Leben im Mutterleib als eine Art bedeutungsvolle Präexistenz definiert. Im Mutterleib kann man in das gesamte Universum blicken und die ganze Thora lernen. Im Moment der Geburt jedoch lässt uns der Klaps eines Engels auf den Mund vergessen, was wir gelernt haben. Ist es ein notwendiges Vergessen, das uns unsere Menschlichkeit eröffnet, oder ist es menschlich, weil wir vergessen können?
Erri: Das Geschenk der Thora ist endgültig und einmalig für alle Generationen. Es ist ein Code für die Beziehung zwischen Gott und der Menschheit. Aber dieser Code muss von jedem Geschöpf, das den Mutterleib verlassen hat, verkörpert und interpretiert werden. Mit dem Moment der Geburt beginnt die enorme Neuigkeit einer Variante der Gattung Mensch. Also muss er mit einem leeren Blatt beginnen, das aber unter dem handgeschriebenen liegt. Auf dem Blatt ist der verblasste Abdruck des im Mutterleib geschriebenen zu sehen. Im Laufe des Lebens lernt man die Thora mit dem ständigen Eindruck, sie schon vorher gekannt zu haben. Im Fall der Thora bedeutet Lernen, dass man eine Erinnerung erreicht.
G: Die Geburt also als Übergang zwischen Vorwissen und Vergessen oder als Versprechen neuer Erfahrungen, um zu vergessenem Wissen zurückzukehren?
Erri: Die Geburt und das frühe Kindesalter beinhalten alle Möglichkeiten des zukünftigen Menschen. Je älter man wird, desto geringer werden diese Möglichkeiten, wie Linien, die zum Gipfel eines Berges hin zusammenlaufen. Alle Erfahrungen wirken einschränkend und spezialisierend und schließen Alternativen aus. Die Thora hält die Beziehung zu den nicht verwirklichten Möglichkeiten aufrecht. Die Thora bewahrt in jedem Geschöpf den Bestand seiner Unermesslichkeit. Jeder fügt seine eigene, einzigartige Interpretation hinzu.
G: Aber die Geburt ist vielleicht vor allem ein Zeichen für den Bund zwischen Gott und Abraham. Ein Bund, der in der Thora das Versprechen von Nachkommen und einem eigenen Land, Kanaan, ist. Analog kann man sagen, dass der Kriegsausbruch in Europa den Bund zwischen den Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg, in Frieden zu leben, gebrochen hat. Zeichen einer unvollendeten oder verleugneten Geburt?
Erri: Krieg ist Teil der Menschheitsgeschichte. Er ist unsere Art, in einen primitiven Zustand zurückzufallen. Es gibt keine Bünde zwischen den Generationen: Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat Europa die Formel der Ächtung gefunden und zum ersten Mal eine Generation, meine Generation, die Runde der Zerstörung übersprungen. Krieg basiert auf Überwältigung und auf der Annahme, überwältigen zu können. Wer an der Gewissheit des Sieges zweifelt, beginnt keinen Krieg. Auch dieser Krieg in der Ukraine ist von einer Vermutung der Überlegenheit und damit des Erfolgs motiviert. Wie in vielen anderen Kriegen ereignen sich Ketten unvorhergesehener Ereignisse, die das Kräfteverhältnis auf dem Schlachtfeld verändern. Wie jeder andere Krieg wird auch dieser aufhören. Die Kriege, die den Namen Gottes zu ihrem Schutz und ihrer Inspiration anrufen, blasphemieren ihn.
G: In der jüdischen Kultur und Tradition ist die mütterliche Beziehung vorherrschend: Wer von einer jüdischen Mutter geboren wird, ist Jude. Es gibt etwas Körperliches, Materielles, das eine Verbindung schafft. In der christlichen Tradition von Christi Geburt erhält das mütterliche Element jedoch eine transzendente, spirituelle Dimension: In Maria herrscht eine ideale Mutterschaft vor, die ihrer fleischlichen Dimension beraubt ist (die sogenannte unbefleckte Empfängnis). Warum haben Christen Ihrer Meinung nach so viel Angst vor der Materialität der Geburt?
Erri: Ich würde sagen, dass das Christentum die Geburt Jesu vergöttlicht, während es für die Juden die Geburt eines kleinen Jungens ist, der nach der ersten Woche beschnitten wird. Doch auch Miriam/Maria hat, bevor sie auf den Altar gehoben wird, die Füße einer ledigen Mutter, die gezwungen ist, ihr Kind auf Reisen, allein und in einer provisorischen Unterkunft zur Welt zu bringen. Im Judentum sind von Eva an die Frauen für die Findung des Namens verantwortlich, weil sie dem Leben vorstehen. Weiblich heißt im Hebräischen „nekevà“, der Spalt, aus dem Leben entsteht. Miriam/Maria, die durch die Verkündigung befruchtet wird, ist die Trägerin des bereits geschriebenen und vorgeschriebenen Wortes. Das Wirken ihres Sohnes Jesus ist zunächst vor allem körperlich, voller Heilungen, und dann parabolisch, mit Beispielen und Allegorien zur Erneuerung des Judentums. Erst nach ihm beginnt das Christentum.
G: Bei der Geburt besteht die unmittelbare Notwendigkeit, einen Namen zu wählen. Wir erleben diese Adventszeit für die Christen am Rande eines sehr nahen Konflikts. Und doch scheint es uns schwerzufallen, das Wort Frieden auszusprechen in einer Zeit, in der „Friede auf Erden“ als Weihnachtsbotschaft in den Kirchen verkündet wird: Fällt es uns also auch hier schwer, den Bedürfnissen der heutigen Zeit einen Namen zu geben?
Erri: Die Gegenwart bekommt ihren Namen von der Zukunft. Die Renaissance ist die posthume Anerkennung einer Epoche, die weitaus kriegerischer war als die jetzige, und dennoch als Blütezeit der Kunst bezeichnet wird. Das Wort Frieden hat für uns in Europa heute einen Mehrwert, gerade weil es vom andauernden Krieg gezeichnet ist. In einem Psalm Davids heißt es, dass Gott den Kriegen ein Ende macht, aber das Verb ist das hebräische Wort für Sabbat/Ruhetag. Das heißt also, dass Gott den Kriegen nur einen Sabbat geben kann, sie unterbrechen, aber nicht abschaffen kann. Den Einsatz von Waffen zu ächten, liegt bei uns, in der Hand jeder Generation.
G: Welchen Sinn und welches Versprechen kann man heute erneuern, angesichts von Geburten, die durch Konflikte, verweigerte Migration und wachsende Ungerechtigkeit gezeichnet sind?
Erri: In jeder Geburt, die während einer gefährlichen Überfahrt, im Krieg oder im Exil stattfindet, finden wir die Geburt Jesu und die Situation seiner Eltern. In jedem Flüchtling, in jedem Verbannten die Lebensgeschichte dessen zu erkennen, der die Welt erlöst, das ist das Ziel, das ich mir gesetzt habe.
G: Darf ich Sie um einen abschließenden Gedanken zum Frieden in unserem Alltag und in unserer wohlhabenden und müden Gesellschaft bitten?
Erri: Was den Reichtum betrifft, so sehe ich, dass er sich zu sehr auf einige wenige Privilegierte konzentriert, die anderen die Ressourcen wegnehmen. Ohne das Hauptfest, den Appetit auf das Weihnachtsessen verderben zu wollen, sollten wir im Format der Krippe die Empfänger der christlichen Nachricht erkennen. Das durch ein Dorf in Miniatur dargestellte Volk, die Hirten auf dem Feld, an sie richtet sich das neue Wort, das in der Bergpredigt mit größter Genauigkeit wiederholt wird, wo die Hierarchien umgekehrt werden und die Bedrängten und Unterdrückten in der ersten Reihe stehen. Die anderen, die in den Hintergrund gedrängt sind, werden weiterhin so tun, als hätten sie nichts gehört.