Liebe Leserin, liebe Leser!
Mittlerweile ist in den meisten Landesteilen Italiens – abgesehen von denen mit hohen Bergen – der Frühling ausgebrochen. Überall grünt und blüht es. Mich lockt die Frühlingsstimmung hinaus ins Freie, auf Wiesen, in Wälder, auf Hügel, an Seen. Diese Landschaften durchwandere ich gerne auf ruhigen Wegen und Pfaden.
Vor einigen Jahren war ich in der Frühlingszeit in meiner bayerischen Heimat auf dem Jakobus-Pilgerweg zwischen Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber unterwegs. 80km auf abgelegenen Wegstrecken wandern, die Ruhe genießen, die Schöpfung wahrnehmen, in Kirchen innehalten, Auszeit vom Alltag nehmen.
Doch ich konnte in diesen Tagen den Alltag nicht ganz hinter mir lassen. Denn als ich mich mit Einheimischen über die Wegführung unterhielt, sagten zwei von ihnen unabhängig voneinander: „Ich würde an deiner Stelle so und so gehen, das ist der kürzeste und schnellste Weg. Gehst du über den Jakobusweg, machst du einen weiten Bogen, einen Umweg.“ Ach, dachte ich mir, genau dieses Denken kennst du aus deinem Alltag von dir selber: immer effizient denken, zielgerichtet, ohne Umwege.
Genau so nicht zu denken, das ist die Chance auf dem Jakobusweg: einmal jeden Zweck beiseitelassen, einfach einen Umweg gehen, nicht auf das Ziel fixiert sein, sondern den (Um-)Weg genießen, den Weg das Ziel sein lassen. Nicht wie ein Werkzeug funktionieren, sondern auf sich selbst achten, in sich hineinhören, sich verlangsamen, sich selbst das Ziel sein lassen.
Vielleicht haben Sie in diesem Frühjahr die Gelegenheit, einige Tage frei zu nehmen. Oder Sie planen gerade Ihren Urlaub für die Sommerzeit. Wann auch immer Sie Urlaub machen, ich wünsche Ihnen, dass Sie aus dem Alltagsdenken aussteigen können. Weg vom zielorientierten Tun und Machen hin zum freien und einfachen Sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Lasten abwerfen können, die Sie vielleicht schon länger mit sich herumtragen. Gerhard Teerstegen dichtet: „Man muss wie Pilger wandeln, frei, bloß und wahrlich leer; viel sammeln, halten, handeln macht unsern Gang nur schwer.“ (Evangelisches Gesangbuch, Nummer 393, Strophe 4)
Zu meiner Erfahrung, sich zu entlasten und frei und leicht zu werden, gehört auch der Besuch von Gottesdiensten. Jeder Gottesdienst ist eine einzigartige Auszeit vom Alltag. Hier werden wir nicht nur ruhig in uns selbst, sondern stehen auch ruhig vor Gott. Wir hören: Wir leben nicht aus unseren eigenen Anstrengungen, sondern aus Gottes freier Gnade. Unser Leben fließt uns als Geschenk aus Gottes Händen zu. Wir dürfen unser Leben schlicht und einfach von Gott empfangen. Diese Botschaft im Gottesdienst zu hören, bedeutet für mich eine große Entlastung, und der Gottesdienst ist für mich darum eine äußerst wohltuende Auszeit. Besuchen Sie doch wieder einmal einen Gottesdienst und hören Sie dabei auf eben diesen Zuspruch Gottes, dass Ihr Leben in seinen Händen gehalten und getragen ist!
Am letzten Tag meiner Pilgerwanderung in Bayern lief ich von der Frankenhöhe hinab nach Rothenburg ob der Tauber. Ein kleines Wegstück ging’s an der Autobahn A7 entlang. Auf ihr schossen die Autos dahin. War das nicht ein Spiegelbild unserer alltäglichen Wirklichkeit? Ein Abbild des getriebenen modernen Menschen? Ich wanderte nur 10m davon entfernt. Aber ich wanderte in einer anderen Wirklichkeit, in der befreienden Wirklichkeit meiner Auszeit. Wie froh war ich, pilgern zu dürfen.
Pfarrer Tobias Brendel (Turin)
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