Im Jahr 1945 veröffentlichte der Turiner Arzt und Schriftsteller Carlo Levi seinen Roman „Christus kam nur bis Eboli“. Darin beschreibt er, unter Mussolini aus Norditalien in die Region Lukanien (heute: Basilicata) verbannt, den Alltag der dortigen, bäuerlich geprägten Landbevölkerung. Seine Schilderungen tiefen Elends und bitterster Armut rüttelten damals die Politik auf und bewegen noch heute. Es sind Erzählungen von einem Leben auf engstem Raum, Mensch und Tier zusammengepfercht, der Alltag bestimmt von Hunger, Kälte und Malaria.
Ein Satz, der zugleich titelgebend für diese autobiographisch grundierte Erzählung war, bringt mich besonders zum Nachdenken: „Wir sind keine Christen“, so pflegten die Menschen, denen Carlo Levi begegnete, über sich selbst zu sagen. „Christus ist nur bis Eboli gekommen“. „Christ“ war in ihrer Ausdrucksweise gleichbedeutend mit „Mensch“. „Wir sind keine Christen, keine Menschen, wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere“.
In Eboli, damals ein besser gestelltes landwirtschaftliches Zentrum etwas weiter nördlich in Kampanien gelegen, sei Christus wohl noch zu finden, keinesfalls aber in der eigenen ausweglosen Misere.
Unweigerlich kommen mir die Menschen in den Kriegs- und Krisengebieten unserer Tage in den Sinn und all diejenigen, denen das Leben so übel mitgespielt hat, dass sie für sich keinen Ausweg mehr sehen: Verständlich, wenn einem der Gedanke an Christus dann so zynisch erscheinen mag, dass er höchstens noch ein müdes Lächeln hervorrufen kann.
Solchem himmelschreienden Elend wagt die Heilige Schrift die Botschaft vom Kreuz entgegenzustellen: „Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,6-8).
Dass Gott Mensch wird und am Kreuz die tiefsten Tiefen und Abgründe des Menschseins selbst erfährt, hat schon zu biblischen Zeiten Anstoß erregt. Bleibenden Anstoß erregt auch, dass dieser Tod je und je wieder etwas mit dem konkreten Leid dieser Welt zu tun haben soll, ja, dass Christus auch in meine Tiefen hinabgestiegen ist und ich selbst durch ihn hineingenommen bin in eine Bewegung vom Tod hin zum Leben. Doch genau darum geht es in Passion und Auferstehung. Ein Christus, der vor den schlimmsten Zuständen die Augen verschließt und vor den tiefsten Abgründen Halt macht, wäre nicht mehr der biblische Gottessohn. Er wäre ein anderer und die gesamte biblische Botschaft wäre eine andere.
Was am Kreuz geschieht, bleibt paradox, wie es auch in einem Lied aus dem Gesangbuch anklingt: „Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Kreuzes und bringt gute Frucht.“ Das Lied mündet sodann in eine Bitte: dass sich die „gute Frucht“ der Auferstehung und eines erneuerten Lebens an der Welt und an uns selbst bewahrheiten möge: „Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn. Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn“ (Innario der ELKI, Nr. 139).
Pfarrerin Vanessa Bayha, Centro Melantone (Rom)