Stellen Sie sich folgendes vor: Sie haben eine Theaterkarte. für eine Ein-Mann-Show von einem berühmten Schauspieler. Es ist 21 Uhr, eigentlich sollte es losgehen. Aber das Tor des Theaters ist noch verschlossen, kein Licht zu sehen. Es bildet sich eine immer länger werdende Schlange. Man hört Gemurmel. „Haben die nicht gesagt, ob heute gespielt werden kann, sei unsicher?“, äußert einer seine Zweifel. „Ich habe gelesen, dass die Theater sparen und auch Vorstellungen ausfallen lassen müssen“, fällt es dem nächsten ein. Ein dritter: „Das wird es sein, die Vorstellung fällt heute aus!“ Immer lauteres Stimmengewirr: „Ja, sie fällt aus!“ Die Leute knöpfen ihre Jacken wieder zu, um zu gehen. Da meldet sich einer: „In der Bar habe ich heute Mittag den Schauspieler getroffen. Er hat gesagt: ‚Bis heute Abend!‘“ Niemand hört auf ihn. Als um 21.20 Uhr das Theater geöffnet wird und das Personal für die Verspätung um Entschuldigung bittet, ist niemand mehr da.
Was ist da passiert?
Die Vielen haben geredet, waren sich einig, einer hat den anderen bestärkt in seiner Meinung. Schließlich hat der Einzelne, der meinte, die Vorstellung würde stattfinden, angefangen zu zweifeln: Wenn sie alle sagen, dass sie ausfällt, habe ich mich vielleicht verhört. Es wird schon stimmen, was die meisten sagen.
Sehr viele Menschen stehen auf dem Platz vor dem Sitz des römischen Statthalters Pilatus. Dort drin ist das Verhör zwischen Pilatus und Jesus im Gange, das wissen sie. „Der muss weg, dieser Jesus“, macht einer in der Menge sich Luft. „Ich bin froh, dass sie diesen Aufrührer endlich festgenommen haben“, bestätigt ein anderer. „Der war mir schon lange suspekt“, ein dritter, „mit rechten Dingen ist es da nicht zugegangen.“ „Was meinst du damit?“, fragt der, der neben ihm steht, „er hat meine Tante geheilt. Ich habe sie hinterher mit eigenen Augen gesehen. Gesund wie ein junges Reh.“ „Stimmt“, sagt ein weiterer, „und was Jesus neulich vom Reich Gottes erzählt hat, ist mir richtig zu Herzen gegangen.“ „Eben!“, ruft einer aus. Das ist es ja! Der will nur ein anderes Reich! Nicht noch einer, der meint, über uns regieren zu müssen!“ Die, die gegen Jesus sind, bekommen Oberhand. Schon wenig später werden sie alle mit einer Stimme reden: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet.“ (Johannesevangelium 18,30)
Warum hat eine Menge solche Macht? Wir Menschen sind doch denkende Leute. Warum lassen wir uns so leicht hinreißen? Viele Leute sind doch nicht unbedingt stärker als wenige oder einzelne. Man darf sich nur nicht von der scheinbaren Macht und der Lautstärke einer großen Menge einschüchtern lassen. Auch Pilatus will das alles nicht. Doch es ist nicht leicht, wenn viele auf dich zukommen und dir entgegentreten.
Pilatus tut, nachdem er noch weiter mit Jesus geredet hat, etwas Mutiges: Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. (Johannes 18,38)
Das ist mutig, weil er sich nun offen und verletzlich macht, indem er ein Wort für Jesus einlegt. Wer sich für Unschuldige einsetzt, macht sich selbst verletzlich. Trotzdem ist gerade das in dieser Welt unendlich wichtig. Es fällt auf, es hat Folgen, und schließlich können unrechte Verhältnisse verändert werden.
Pilatus hält den Widerstand gegen die Menge nicht durch: Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. (Johannes 19,1)
Ihn hat der Mut verlassen. Wer von uns wäre so stark gewesen, standhaft zu bleiben?
Dann tut Pilatus doch noch etwas Großes. Jesus kommt heraus, er trägt Dornenkrone und Purpurmantel, womit sie ihn verspotten. Doch in ihm ist etwas, das Pilatus nicht loslässt. Er hat es schon beim Verhör, gemerkt. Er hatte Jesus in die Enge treiben und einschüchtern wollen und hat gemerkt, dass da ein Größerer vor ihm stand. Jetzt fasst er alle diese Eindrücke in einen einzigen Satz:
Pilatus spricht zu ihnen: Seht, welch ein Mensch! (Johannes 19,5)
Die Geschichte geht weiter. Die Menge war stärker. Doch aus dem „Seht, welch ein Mensch“ wird unter dem Kreuz der Ausruf des Hauptmanns werden: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Markusevangelium 15,39)
Denn recht hatten sie am Ende nicht, die in der großen Menge. Sie konnten nicht aufhalten, was mit ihm, der auch ein Einzelner war, auf dieser Erde begann.
Cornelia Möller, Pastorin in der Chiesa Cristiana Protestante in Milano
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