Rom, 20. November 2023 – Die Militäroperationen in Gaza gehen weiter. Auch in der Ukraine werden sie fortgesetzt. Und die Zeichen einer Destabilisierung mehren sich in Armenien und Aserbaidschan, im Iran, in Jemen, Äthiopien, der Demokratischen Republik Kongo und der Region der Großen Seen, der Sahelzone, in Haiti, Pakistan und Taiwan. Damit haben wir uns nur auf die 10 realen oder potenziellen Konflikte beschränkt, die die Welt zu destabilisieren drohen.
In Anbetracht all dessen können wir vielleicht sagen, dass die Verheißung des Propheten Jesaja nicht in Erfüllung gegangen ist. Noch nicht.
Die Menschheit hat nicht gelernt, sich vom Krieg abzuwenden, im Gegenteil, sie scheint tatsächlich nicht in der Lage zu sein, ohne Krieg auszukommen. Aber vielleicht kann die Menschheit vor allem nicht ohne Gewalt auskommen?
Der katholische Kardinal Pizzaballa sagte, der Konflikt im Nahen Osten habe uns in eine der „schwierigsten und schmerzhaftesten Perioden unserer jüngsten Zeit und Geschichte“ gestürzt.
Und das Heilige Land, das von den Christen bald als Geburtsort von Jesus Christus gefeiert werden soll, ist nicht zum Land der Versöhnung und Hoffnung geworden, sondern zum Bunker der gegnerischen Verzweiflung.
Was am 7. Oktober mit den schrecklichen Angriffen der Hamas gegen wehrlose Menschen geschah, kann niemals als zulässig angesehen werden.
Trotz der uneingeschränkten und entschiedenen Verurteilung solch abscheulicher Gewalttaten dürfen wir uns nicht scheuen, unsere Meinung zu äußern.
Und mit der gleichen Entschlossenheit zu bekräftigen, dass wir uns als Reaktion auf die Gewalt des Terrorismus nicht auf einen Konflikt einlassen dürfen.
Tatsächlich ist schon die Sorge, missverstanden zu werden, ein Zeichen dafür, dass unsere Treue zum Evangelium begrenzt ist.
Die Lehre von Jesus, die einzige, die für jeden, der sich Christ nennt, von Wert sein kann, ist mit Hass unvereinbar. Stattdessen müssen wir die Kraft und den Mut zurückgewinnen, klar und deutlich über die Feindseligkeiten zu sprechen, die nun bald zwei Monate alt sein werden.
Mittlerweile gibt es im Gazastreifen Tausende von Toten. Und unzählige Verwundete, Vertriebene, Verzweifelte. Eine Flut von Männern, Frauen und vor allem Kindern, die wie Spielfiguren auf einem zunehmend instabilen Spielbrett behandelt werden. Die erst in den Norden versetzt wurden, dann in den Süden, dann ans Meer – als ob ihr Leben nur noch im Zusammenhang mit der Kriegsstrategie von Bedeutung wäre.
Als lutherische Kirche, die sich des Antisemitismus bewusst ist, der im Namen Gottes Jahrhunderte und Religionen überspannt hat, wollen wir den Aufruf jüdischer Intellektueller in den USA und anderswo annehmen, die Darstellung des Konflikts im Heiligen Land nicht undurchlässig zu machen.
Undurchlässig für jede Kritik, für jeden Einwand mit der Begründung, dies würde automatisch bedeuten, einen neuen Antisemitismus zu fördern.
Wir dürfen diese Polarisierung der Informationen nicht akzeptieren, die auch in Italien praktiziert wird und die keine anderen Überlegungen zulässt, als die, die im jeweiligen rhetorischen Käfig eingesperrt sind.
Die Komplexität der Geschichte und der aktuellen Ereignisse des israelisch-palästinensischen Konflikts sowie anderer bestehender oder potenzieller Konflikte sollte nicht auf das Aufeinandertreffen gegensätzlicher und hermetischer Befürworter reduziert werden.
Nicht das ist die Aufgabe eines Christen. Nicht das ist die ethische Verpflichtung, die wir als Kirche gegenüber dem Evangelium und der Gesellschaft, der wir in seinem Namen zu dienen versuchen, empfinden.
Das Lukasevangelium weist uns darauf hin, dass angesichts des hinterhältigen Schweigens sogar die Steine lauter schreien werden als wir (Lk 19,40).
Antizionismus ist – wie Peter Beinart geschrieben hat – nicht per se antisemitisch, und dies zu behaupten hieße, jüdisches Leid zu benutzen, um die palästinensische Erfahrung auszulöschen.
Als Lutheraner sind wir von dem Grundsatz des Judentums תיקון עולם (Tikun Olam), dem Aufruf, die Welt zu reparieren, überzeugt.
Jesus erinnert uns in den Evangelien daran, dass es die Kranken sind, die den Arzt brauchen, nicht die Gesunden. Und sagt uns damit, dass die Behandlung für den Patienten bestimmt ist, nicht für die Krankheit.
Lange Zeit haben viele westliche Länder die faktische Legitimität des Zionismus bekräftigt. Der eine politische Ideologie ist und als solche auch kritisiert werden muss. Eine Kritik, die im Übrigen heute von immer mehr jüdischen Gemeinden geäußert wird.
Die Kritik an den Ideologien des 20. Jahrhunderts, die Europa und die Welt erschüttert haben, darf nicht beim Zionismus Halt machen, weil man irrtümlich glaubt, dass dies eine Rechtfertigung des Antisemitismus bedeute.
Die politische Unterdrückung der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland ist nicht der legitime Kampf gegen den Judenhass in der Welt.
Die Auferlegung eines falschen Prinzips hat die öffentliche Debatte in eine ideologische Auseinandersetzung gezwungen, die nichts mit der Gefahr des Antisemitismus zu tun hat. Sowohl innerhalb als auch außerhalb Israels.
Die Behauptung, die palästinensischen Forderungen seien das Ergebnis von Antisemitismus, läuft zunehmend Gefahr, zu einer Instrumentalisierung zu werden, an der wir uns nicht beteiligen können. Während selbst abweichende Meinungen innerhalb Israels mit Vergeltungsmaßnahmen und Beschränkungen geahndet werden, die genau jene demokratische Kultur zunichte machen, deren Teil wir sind und die wir stattdessen verteidigen müssen.
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist auch ein Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, wenn die Legitimation eines politischen Prinzips über die Vernunft und den Gebrauch der Vernunft siegt, indem das gesamte jüdische Volk auf eine einzige mögliche politische Ideologie reduziert wird.
Die Forderung nach einem Waffenstillstand, die sowohl vom Lutherischen Weltbund als auch von der UNO geäußert wurde, wird heute von den westlichen Regierungen selbst sträflich kompromittiert.
Italien, das in der Vergangenheit eine friedensstiftende Rolle im Mittelmeerraum und gegenüber den Völkern des Nahen Ostens gespielt hat, kann nicht die Unterordnung unter ein Prinzip akzeptieren, das über jede vernünftige Unantastbarkeit hinausgeht.
Als Lutheraner in Italien möchten wir erneut darauf hinweisen, dass eine eingehende Untersuchung erforderlich ist. Das Eingeständnis, dass die Sünde, sich durch die Polarisierung der Informationen beruhigt zu fühlen, auch uns betrifft. Eine Sünde, die uns nicht heilig macht, wenn wir sie bekennen, uns es aber ermöglicht, mit zuversichtlicher Hoffnung Tikun Olam zu praktizieren, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.