Rom, 9. Oktober 2023 – Dass der Nahe Osten ein Pulverfass ist, wissen wir schon seit Jahren. Nur haben wir uns daran gewöhnt. Wir leben damit. Ziemlich gut sogar, von unserer Seite der Welt aus ist das verständlich.
Als Tullio Vinay vom Staat Israel der Titel eines „Gerechten unter den Völkern“ verliehen wurde, zögerte er nicht, die an den Palästinensern begangenen Verbrechen anzuprangern.
Vinay, der in den Jahren des Zweiten Weltkriegs als Pfarrer der Waldensergemeinde in Florenz Juden gerettet und damit sich selbst und seine Familie in Gefahr gebracht hatte, scheute nicht vor der prophetischen Aufgabe zurück, die ihm zufiel.
Denn die prophetische Stimme ist nicht das Ergebnis mystischer Verzückungen oder wer weiß welchen göttlichen Geistes. Es ist die Stimme derer, die sich einfach bemühen, die Dinge zu verstehen, und sich nicht damit zufriedengeben, sie vor ihren Augen vorbeiziehen zu lassen. Die Stimme außerhalb des Chors, wenn Sie so wollen.
Seit Jahrzehnten schwelt im Land Palästina der Hass. Ein Hass, der durch die Übergriffe auf ein Volk, das palästinensische Volk, geschürt wird, das in einem Land ohne Rechte eingesperrt ist.
Aber ist dies eine Rechtfertigung für die Toten der vergangenen Tage? Ist dies eine Rechtfertigung für den Terror, der in Israel gesät wird?
Nein, nichts kann Gewalt rechtfertigen. Doch müssen wir vor allem bedenken, dass es die westliche Heuchelei ist, und damit auch unsere eigene, die sich mit diesem Konflikt auseinandersetzen muss.
Ein Konflikt, der nicht neu ist. Und den ich auch nicht neu nennen würde, da ich nicht als vergesslich oder gar böswillig erscheinen will.
Der israelisch-palästinensische Konflikt existiert, und die Tatsache, dass es in den letzten Jahren mehr oder weniger ruhig war, bedeutet nicht, dass er beendet ist.
Es war klar, dass Israel darauf reagieren würde. Und dass es dies mit Grausamkeit und Rache tun würde. Daher können wir nicht davon ausgehen, dass diejenigen, die den Großangriff geplant haben, nicht damit gerechnet haben.
Dennoch müssen wir auch darüber nachdenken und uns fragen, was einen immer weniger marginalen Teil eines Volkes dazu treibt, in den sicheren Tod zu gehen, um die Aufmerksamkeit der Welt zu erhalten.
Jetzt werden sie von der Presse als Terroristen, Mörder und Kriminelle bezeichnet. Denn die Bilder dieses Krieges erschrecken uns. Es ist entsetzlich, sich vorzustellen, dass unbewaffnete Zivilisten angegriffen werden, ohne Zeit zu haben, sich dessen bewusst zu werden. Wir sind entsetzt, dass die verschlafene Routine unseres Wochenendes gewaltsam in einen weiteren Krieg hineingezogen wurde. Alles, was uns als ungerecht dargestellt wird, erschreckt uns.
Und wir werden auch anfangen, Partei für eine Seite zu ergreifen, das tue ich ja auch in diesem Artikel, werden einige sagen.
Dennoch ist es Vinays prophetische Stimme die in unserem Gewissen als Gläubige widerhallt. Am 21. April 1982 nahm Tullio Vinay in der israelischen Botschaft kein Blatt vor den Mund: Ich bin auf der Seite von Abel, denn „ich vergesse die Unterdrückten nicht, aus Vorteil oder reiner Höflichkeit“.
Und weiter: „Man kann verstehen, dass sich die Juden nach 2000 Jahren der Zerstreuung und Verfolgung ein Heimatland wünschten, aber um es zu bekommen, mussten sie es anderen wegnehmen. Sie ließen die Araber für die Sünden der Europäer und Amerikaner bezahlen. Ich würde das vielleicht verstehen, wenn es eine Politik des Verständnisses und der Hilfe für die Enteigneten, eure Brüder im selben Land, auch in Ablehnung, gegeben hätte, eine Politik der guten Nachbarschaft. Es gibt keinen Gegner, der nicht durch die Liebe überwunden werden kann. Israel hat die Wüste in einen Garten Eden verwandelt; warum sollte man den Palästinensern nicht helfen, dasselbe zu tun, so dass das kleinere Territorium durch seine größere Qualität kompensiert wird?
Das ist keine Naivität, es ist einfach eine andere Politik als die übliche, die die Welt in den Ruin treibt.
Stattdessen setzte Israel seine Annexionen fort, mit immer grausameren Repressionen, mit Repressalien, von denen auch Frauen und Kinder betroffen waren.
Ich spreche diese Worte mit tiefem Bedauern aus, gerade wegen der Liebe, die ich für euer Volk empfinde, einer Liebe, die nicht erst entstanden ist, als Sie verfolgt und vernichtet wurden, sondern schon vorher. Aber aus Ehrlichkeit Ihnen und mir gegenüber musste ich sie sagen.“
Schauen Sie hin, bevor Sie diejenigen verurteilen, die es wagen, anders zu denken. Bevor Sie diejenigen kritisieren, die sich gegen die Unehrlichkeit der Gedanken aussprechen. Das heißt, bevor man die Taktik der verbrannten Erde gegen diejenigen ausübt, die es wagen, zumindest eine Augenbraue hochzuziehen, eine Taktik, die allen so gut zu gelingen scheint. Diejenigen die etwas in Frage stellen, werden oftmals leichtfertig und brutal geächtet – die vielen Urteilenden sollten sich dabei zumindest darüber im Klaren sein, dass sie so bequem mit dem Strom schwimmen und im Grunde genommen von ganzem Herzen denken: Das geht uns nichts an, das ist nicht unser Problem.
Der Hass aber ist unser Problem. Immer und in jedem Fall. Der Einsatz von Macht, um
Andersdenkende zum Schweigen zu bringen, ist unser Problem. Auch in unserem kirchlichen Umfeld, das wir stolz als „demokratisch“ rühmen. Um mit der Gewalt außerhalb von uns zurechtzukommen, müssen wir uns der Gewalt bewusst werden, die wir ausüben und die wir provozieren. Bevor wir den Unmut anderer verurteilen, der immer verwerflich ist, sollten wir uns immer an die Verantwortlichkeiten erinnern, die ihn verursacht haben. Und dann vielleicht, nur vielleicht, „werden wir Krieg nicht mehr lernen“.
Der Artikel wurde von Gianluca Fiusco, dem Kommunikationsbeauftragten der ELKI, für die Wochenzeitung Riforma geschrieben.