Rom, 21. November 2023 – Die tragische Geschichte von Giulia Cecchettin kann einen Wendepunkt markieren oder wie die anderen 104 Opfer des Jahres 2023 an uns vorbeiziehen.
Trauer, Wut und die Fragen, die wir uns stellen, können die Toten nicht ins Leben zurückholen.
Andererseits wird auch die Existenz derjenigen, die für diese Gewalt verantwortlich sind, unwiederbringlich gezeichnet. Keinem von uns steht es zu, zu urteilen und zu verurteilen. Die Gerichte und die Justiz werden ihren Weg gehen.
Es gibt ein Übel, das unsere Gesellschaft heimsucht. Ein Übel, dem wir nur gemeinsam begegnen können. Ein Übel, das die Konturen von Langeweile und Nacheifer annimmt, eines Lebens, das zunehmend vom Verständnis der Gefühle, von der Fähigkeit, sie zu leben und zu verarbeiten, entfremdet ist.
Wie in einem virtuellen Spiel werden Emotionen und Gefühle als Möglichkeiten und Variablen erlebt, die repliziert und wiederholt, korrigiert und zurückgesetzt werden können. In der virtuellen Welt gibt es nie ein endgültiges Nein: Es besteht immer die Möglichkeit, das „Level“ zu wiederholen. Vom letzten Spielstand aus weiterzumachen.
Die Wahrnehmung der Gegenwart ist labil geworden und Leben und Tod sind Phasen eines Rollenspiels, aus dem man immer wieder auf(er)stehen kann.
Aber Leben gehen kaputt, und es ist nicht möglich, sie wieder zusammenzufügen. Zu oft gehen sie für immer kaputt.
Dann gibt es immer noch die Flucht oder die Selbstzerstörung. Was immer ein Weg ist, sich selbst zu entfliehen und nicht der eigenen Verantwortung. Um dieser Brutalität zu entkommen, die vor allem diejenigen erschreckt, die sie begangen haben.
Gewalt gegen Frauen ist eine Gewalt, die uns alle betrifft. Sie betrifft uns, weil die Gesellschaft, in der diese abscheulichen Verbrechen heranreifen, die Gesellschaft ist, in der wir alle leben. Die Gesellschaft, die wir alle prägen.
Das Recht auf Leben, das Giulia mit dem Tod genommen wird, überträgt uns die Verantwortung für das Bürgerrecht, das jeder hat.
Das Bewusstsein schärfen, natürlich. In den Schulen darüber zu sprechen, großartig. Das Netzwerk der Anti-Gewalt-Zentren stärken, perfekt.
Doch ist all das wirklich ausreichend und die Lösung?
Das Gesellschaftsmodell, in dem wir leben, macht jede – ideale und operative – Antwort prekär. Die gesellschaftliche Säkularisierung hat allem und jedem die Heiligkeit genommen. Und schon die Verwendung des Begriffs „heilig“ wird mit viel Unduldsamkeit erlebt, auch in den Kirchen.
Die unantastbaren Heiligkeiten der Religionen wurden nach und nach durch die Unsicherheit und Fragwürdigkeit von allem ersetzt. Und dabei das Bedürfnis nach Verständnis mit dem unantastbaren und absoluten Willen des Einzelnen verwechselt.
Es gibt keine Ungeheuer in diesen Geschichten. Aber es gibt Opfer. Unterschiedliche Opfer: die, denen das Leben genommen wird. Aber auch die Täter sind Opfer. Unfähig, den Wahnsinn, der sie beseelt, einen Moment früher zu erkennen. Unberührbar vom Zweifel.
Opfer sind die Familien, die Hass und Feindseligkeit ausgesetzt sind, oder der schlimmsten Resignation.
Aber wenn jeder ein Opfer ist, wer sind dann die Schuldigen?
Vielmehr als Schuldige gibt es zahlreiche Verantwortliche – bewusste und unbewusste. Verantwortlich sind die, wie wir heute sagen, Peergroups. Die Freunde und Freundinnen, die Signale zwar wahrgenommen haben, aber nicht wussten, wie sie darauf reagieren sollten. Und wie auch, in derselben Entfremdung versunken, die sie denselben Zerbrechlichkeiten aussetzt?
Aber noch mehr sind es die sozialen Institutionen, die nicht mehr wissen, wie sie mit dieser Gesellschaft kommunizieren sollen, die sie resigniert ertragen und nicht mehr verstehen.
Als Kirchen müssen wir uns fragen, wo wir stehen. Wo wir waren und, was noch wichtiger ist, wo wir hinwollen.
Was wir brauchen, ist ein neuer Sozialpakt, der die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in einer postideologischen Perspektive bekräftigt. Das heißt, in Verbindung mit der Dimension der Würde: denn unantastbar kann auch das Recht auf Würde am Ende des Lebens sein.
Die Kirchen dürfen den Nachrichten nicht hinterherlaufen. Sich der Feier von Begräbnissen für zu früh und zu gewaltsam aus dem Leben gerissene Menschen hingeben.
Als Kirchen und damit als Gläubige sind wir heute aufgerufen und verpflichtet, zu bekräftigen, dass Freude, Schmerz und Leid die christliche Hoffnung nicht negieren. Wie unbegreiflich und schrecklich die Verbrechen auch sein mögen, deren sich Menschen schuldig gemacht haben, die Unantastbarkeit des Lebens kann nicht mit einem vorhersehbaren Urteil gelöst werden.
Gott hat mit diesen Tragödien wenig zu tun. Viel zu tun hat er stattdessen mit unserer Fähigkeit, am Leid der Welt teilzuhaben: sie zu trösten, vor allem aber, ihr Hoffnung zu geben.
Ein Name ist nicht nur ein Name. In der Schöpfungsgeschichte der Menschheit existiert alles wirklich, wenn es benannt wird. Und Namen können nicht getötet werden.
Es sind Geschichten, die niemals sterben und mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. In der Zeit des Schmerzes und in der Zeit vor dem Schmerz.