(LWB Interview) –
(LWI) – Am Ufer des Lago Maggiore in Norditalien, eingebettet in die Ausläufer der Alpen, liegt die kleine Stadt Ispra, in der sich ein europäisches Forschungszentrum befindet, das seit den 1960ern viele Gastarbeitende, hauptsächlich aus Deutschland, den Niederlanden und Frankreich, angezogen hat. Ganz in der Nähe, in dem kleinen Dörfchen Cocquio-Trevisago, lebt Pastor Carsten Gerdes, Dekan der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien, der vor kurzem an der europäischen Tagung zur Vorbereitung auf die Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds (LWB) in Oxford teilnahm.
Der ursprünglich aus Bremerhaven an der deutschen Nordseeküste stammende Gerdes und seine Frau Magdalena, ebenfalls lutherische Pastorin, sind in der Gemeinde von Ispra-Varese tätig. Diese ist eine von fünfzehn Gemeinden, die heute zusammen die Vereinigung Lutherischer Kirchen in Italien bilden. Gegründet wurde die Gemeinde als eine „ökumenische evangelische Kirche“, die im Dienst von Gläubigen aus verschiedenen protestantischen Gruppen steht. Inzwischen umfasst die Gemeinde rund 220 Mitglieder verschiedener Nationalitäten, die in der Nähe oder auf der anderen Seite der Grenze in der Schweiz leben und arbeiten.
Umgeben von einer beeindruckenden Landschaft am Rande eines Nationalparks und keine zwei Stunden von den Skipisten entfernt, stellt die Gegend die ideale Kulisse für einen bekennenden „Naturliebhaber“ wie Gerdes dar. Doch in den vier Jahren, die seit seinem Dienstantritt vergangen sind, hat er bereits die ersten Auswirkungen des Klimawandels bemerkt und die Herausforderungen gesehen, die dieser für die Landwirte und andere lokale Unternehmen mit sich bringt.
Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihren Hintergrund und warum Sie sich dafür entschieden haben, Pastor zu werden.
Geboren wurde ich im hohen Norden von Deutschland, und ich wuchs in einer Familie auf, die nicht sonderlich religiös war. Den ersten echten Kontakt mit der Kirche hatte ich im Rahmen meiner Konfirmation. Obwohl meine Eltern selbst keine Kirchengänger waren, war es ganz normal, dass sie von mir erwarteten, dass ich mich konfirmieren lasse. Ich fand Interesse daran und wollte mehr wissen, also trat ich der Jugendgruppe bei. Das Resultat dieser Erfahrung war, dass ich begann, mir über eine Zukunft als Pastor Gedanken zu machen.
Ich studierte Theologie in Deutschland, und nach meiner Ordination 1993 hatte ich meine erste Pfarrstelle in Wolfsburg, einer Stadt, die man als Hauptsitz des Automobilherstellers Volkswagen kennt. Von dort zog ich mit meiner Familie nach Soltau, das für die umliegenden Naturschutzgebiete mit wunderschönen Wäldern und die mit lila Erika und anderen Wildpflanzen bedeckten Heidelandschaften berühmt ist.
Als unsere beiden Kinder älter wurden und zum Studieren das Haus verließen, beschlossen meine Frau und ich, dass es an der Zeit sei, in die Ferne zu ziehen und zu sehen, welche Herausforderungen das Leben und Arbeiten in einem fremden Land mit sich bringen. Also bewarb ich mich für diesen Posten in Ispra-Varese, wo wir das Outdoor-Leben genießen und Menschen unterschiedlicher Herkunft kennenlernen können.
Wer sind die regulären Mitglieder Ihrer Kirchengemeinde?
Viele unserer Gemeindemitglieder sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Lehrkräfte, die für die Gemeinsame Forschungsstelle der EU-Kommission oder für die europäische Schule in Varese arbeiten. Andere leben in der Gegend, arbeiten aber im Nachbarland bei Schweizer Firmen, wo sie sehr viel Geld verdienen können. Einige sind im Ruhestand oder aus großen Städten wie Mailand weggezogen, um auf dem Land ein ruhigeres Leben zu führen.
Klassischerweise hatten die Leute einen deutschsprachigen Hintergrund, also gab es unsere Gottesdienste und andere Aktivitäten hauptsächlich auf Deutsch. Doch wir begegnen zunehmend Menschen, die an den biblischen Quellen unseres Glaubens und an einer Alternative zur römisch-katholischen Kirche interessiert sind, deshalb halten wir Gottesdienste jetzt teilweise auf Italienisch ab.
Welche Beziehung haben Sie zur ortsansässigen katholischen Bevölkerung?
In der Nähe gibt es eine katholische Kirche, und wir pflegen gute Beziehungen zu den Leuten dort. Einmal im Monat halten wir zusammen eine Andacht ab und organisieren Veranstaltungen während der Gebetswoche für die Einheit der Christen und zu anderen wichtigen Anlässen. Im Advent haben wir zum Beispiel jedes Jahr einen Weihnachtsmarkt, und wir sammeln viele Spenden, mit denen ein von der katholischen Kirche geleitetes Projekt für Obdachlose unterstützt wird.
Im Mai 2022 wurden Sie zum Dekan der Vereinigung Lutherischer Kirchen in Italien gewählt – wie eng arbeiten Sie mit Kirchengemeinden in anderen Teilen des Landes zusammen?
Die Menschen hier in unserer Gemeinde kümmern sich hauptsächlich um lokale Angelegenheiten und fühlen sich anderen Lutheranerinnen und Lutheranern im restlichen Italien nicht so eng verbunden. Wir sind bemüht, diese Verbundenheit zu schaffen, vor allem nach der COVID-19-Pandemie. Unsere nächstgelegene Nachbargemeinde ist Mailand und vor kurzem machten wir einen gemeinsamen Wandertag mit einigen Gemeindemitgliedern von dort, um einander besser kennenzulernen.
Im vergangenen Herbst richteten wir in Rom einen dreitägigen Workshop zum Thema Glauben und Humor aus. Über hundert Leute aus ganz Italien kamen dort zusammen. Wir besprachen Themen wie Humor in der Bibel und den Nutzen der Clown-Therapie. Es war eine fantastische Veranstaltung, die den Leuten eine alternative Sichtweise bot, die ihnen dabei helfen soll, mit allem besser zurechtzukommen, angefangen bei geringfügigen Problemen bis hin zu herausfordernden Themen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen.
Ihre Gemeinde befindet sich in einer herrlichen Landschaft am Lago Maggiore, Sie machen sich aber Sorgen wegen des Klimawandels und der Bedrohung für die Lebensgrundlage der Einheimischen, richtig?
Ja, in unserer Gegend können wir die Auswirkungen der Erderwärmung direkt vor der Haustür erleben. Es gibt weniger Regenfälle und weniger Schnee im Gebirge. Das bedeutet, es fließt weniger Wasser nach unten in die Flüsse und Seen. Die Menschen hier sind auf das Wasser für die Landwirtschaft, den Tourismus und die Wasserkrafterzeugung angewiesen. Als Menschen christlichen Glaubens müssen wir unsere Verantwortung gewissenhafter prüfen und Maßnahmen zur Bewahrung von Gottes Schöpfung für künftige Generationen ergreifen.
Sie waren vor kurzem in England auf der europäischen Tagung zur Vorbereitung auf die Vollversammlung – welche Eindrücke haben Sie von dieser Tagung mitgenommen?
Ich war zum ersten Mal auf einer solchen LWB-Tagung, und ich fand es großartig, so viele neue Menschen kennenzulernen und etwas über ihre Kirchen zu erfahren, vor allem über die kleineren, wie die unserer Gastgeber, die Lutherische Kirche in Großbritannien. Der Klimawandel ist für die Kirchen und vor allem für die jungen Menschen in vielen europäischen Ländern ein großes Anliegen.
Es tat auch gut, sich über die Erfahrungen mit schwindenden Mitgliedszahlen auszutauschen und zu hören, wie andere in dieser Region damit umgehen. In Italien werden wir als Menschen lutherischen Glaubens häufig als Gegenseite der katholischen Mehrheit gesehen, doch wir müssen uns auch zunehmend gegenüber der wachsenden Zahl nichtgläubiger Menschen rechtfertigen.
Sie gehören zu den Delegierten für die Krakauer Vollversammlung im September – welche Hoffnungen hegen Sie für diese Veranstaltung?
Die Menschen in unseren Kirchengemeinden wissen nicht viel über die breitgefächerte lutherische Familie. Sie kommen über Beziehungen vor Ort zu uns, weil sie auf der Suche nach etwas in ihrem Leben sind oder vielleicht auch, weil sie mit anderen Menschen in ihrer Muttersprache reden möchten.
Doch zu sehen, dass wir nicht allein sind, dass es andere lutherische Christinnen und Christen überall innerhalb und außerhalb von Europa gibt, die die gleichen Glaubensvorstellungen und Traditionen haben und den Gottesdienst ähnlich feiern, das ist ein einzigartiges Erlebnis, das einem der LWB bietet. Deshalb möchte ich meine Erfahrungen teilen und versuchen, Wege zu finden, um auch dort Beziehungen zu knüpfen.
Wir müssen erkennen, dass wir viele Herausforderungen gemeinsam haben und dass wir einander durch Gebete und praktische Initiativen unterstützen können. Daher hoffe ich, dass es eine buntgemischte, inspirierende Veranstaltung wird und freue mich auf unsere gemeinsame Zeit in Krakau.
Quelle hier.