Rom, 13. Juni 2024 – Am 1. Juni wurde in London das erste Sikh-Gericht in Europa formell gegründet.
Einige Zeitungen sprachen sogar vom „ersten Sikh-Gericht der Welt“. In Wirklichkeit gibt es in anderen Ländern, in denen die Präsenz der Sikh-Religion alles andere als marginal ist, Formen der öffentlichen Rechtsprechung, die Gerichten ähneln und Familienstreitigkeiten schlichten.
Das Schiedsverfahrensgesetz
In England gibt es den so genannten „Arbitration and Conciliation Act“ (ADR) von 1996, der eine alternative Form der Streitbeilegung zu den Gerichten ermöglicht. Es handelt sich dabei um die Beauftragung einer dritten Person oder Organisation mit der Beilegung einer Streitigkeit, die keine der Parteien allein lösen könnte.
Schiedsverfahren finden in einem breiten Spektrum von Kontexten statt, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Vom Familienrecht und der Mietpreisbremse über den Rohstoffhandel und die Schifffahrt bis hin zu internationalen Handelsverträgen und Investorenklagen gegen Staaten.
Es handelt sich also in jeder Hinsicht um die Legalisierung eines religiösen Gerichts nach englischem Recht, das dies vorsieht. Denn das Familienleben ist bei Religionsgemeinschaften eng an religiöse Vorgaben gebunden.
Ein Religionsgericht?
Das Sikh-Gericht soll dem angeblichen Mangel an Kompetenz säkularer Gerichte entgegenwirken, wenn es darum geht, die kulturelle und religiöse Sensibilität bei der Lösung familiärer und zivilrechtlicher Streitigkeiten zu verstehen.
Dieses Gericht, das sich aus rund 30 Richtern und 15 Staatsanwälten – darunter viele Frauen – zusammensetzt, wird sich bei familiären und zivilrechtlichen Streitigkeiten in der Sikh-Gemeinschaft auf eine Kombination aus Mediation und Schlichtung stützen. Die Richter sollten natürlich unparteiisch sein, diese Richter aber werden dennoch nach den von den Sikhs festgelegten Grundsätzen urteilen.
Allerdings, und das beklagen die Organisationen zum Schutz von Frauen in Minderheiten, hat es keine transparente und demokratische Debatte über dieses Thema gegeben. Keine öffentliche Konsultation über die Notwendigkeit eines solchen Gerichts. Keine Diskussion – insbesondere mit Sikh-Frauen – oder welche Sikh-Prinzipien in Bezug auf Frauen gelten.
In den meisten europäischen und italienischen Medien stieß die Nachricht nicht auf Interesse. Ein Präzedenzfall also, der zu erheblichen Unvereinbarkeiten mit den Grundsätzen nicht nur des angelsächsischen Rechts, sondern der europäischen Rechtskultur führen könnte.
Der springende Punkt ist, dass die so genannten religiösen „Gerichte“ aus Gründen der grundlegenden Gleichheit und der Menschenrechte Ermessenselemente in die Beurteilung sehr sensibler und besonderer Streitfälle einbringen.
Das Thema „Rechte“
Nicht wenige Religionen vertreten zutiefst sozial konservative Ansichten und Grundsätze zur Stellung der Frau und zur Freiheit der Geschlechter.
Mehrere Bürgerrechtsorganisationen haben ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich religiöse Gerichte bei der Meldung von Missständen an die Polizei stets zurückhaltend zeigen.
In einigen Kontexten erkennen Gerichte und religiöse Institutionen eher das patriarchalische Recht als vorherrschend an, insbesondere was den Status von Frauen bei Sorgerechtsstreitigkeiten oder häuslicher Gewalt betrifft.
Das Gericht stellt sich außerdem als professionelles, quasi-juristisches Gremium dar, das bereit ist, sich an formelle juristische Verfahrensregeln zu halten. Bisher haben die Wortführer, die seine Existenz rechtfertigen, jedoch eine weitaus besorgniserregendere Agenda angedeutet.
Am 25. April 2024 kritisierte Baldip Singh, Gründer und Sprecher des Sikh-Gerichts, die weltlichen Gerichte. Für Singh sind sie nicht in der Lage, religiöse Werte bei Familienstreitigkeiten zu berücksichtigen. Dabei ging es um einen Fall, in den eine geschiedene Sikh-Frau verwickelt war. Der Frau wurde ihr Sohn anvertraut, der sich gegen den Widerstand seines Vaters die Haare abschneiden wollte und dies tun durfte.
Für Singh wäre das Recht des Vaters ausschlaggebend gewesen. Dies verdeutlicht die Voreingenommenheit religiöser Gerichte gegenüber den bürgerlichen Freiheiten und Rechten. Die Forderung, die vielleicht sogar banal erscheinen mag, verdeutlicht den Wunsch, religiöse Werte über die individuellen Freiheiten zu stellen.
Das Gericht erklärt, dass es Fälle von „geringer häuslicher Gewalt“ sowie Probleme im Zusammenhang mit „Wutbewältigung, Glücksspiel und Drogenmissbrauch“ in erster Linie durch Mediation behandeln wird. Die Frage, die sich viele in England und darüber hinaus stellen, lautet: Wie wird die Zustimmung der Frauen eingeholt, um Fälle von staatlichen Gerichten auf religiöse Gerichte zu übertragen, und nach welchen Kriterien wird häusliche Gewalt als „geringfügig“ eingestuft?
Ein normales Paradoxon
Doch die englische Besonderheit beruht auf einem Paradoxon. Und zwar dem Human Rights Act (HRA), der 1998 die bedeutendste Änderung des britischen Rechtssystems vor dem Constitutional Reform Act von 2005 einführte.
Der HRA sah nämlich die Übernahme der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in das britische Rechtssystem vor, was zu einer beispiellosen Übertragung politischer Macht von der Exekutive und Legislative auf die Judikative führte.
Das Gesetz sieht vor, dass „primäre und untergeordnete Gesetzgebung so weit wie möglich in einer Weise ausgelegt und umgesetzt werden müssen, die mit den Rechten der Konvention vereinbar ist“ (Sect. 3, HRA 1998 – “So far as it is possible to do so, primary legislation and subordinate legislation must be read and given effect in a way which is compatible with the Convention rights”).
Es besteht daher grundsätzlich der Wunsch, den Menschenrechten den Vorrang vor rechtlichen Fragen zu geben. Ein hehres Prinzip, das heute ein Paradoxon darstellt und neue Bedenken aufwirft.
Diese Normalisierung religiöser „Gerichte“ in einem der ältesten, wenn nicht gar dem ältesten modernen Rechtssystem wird auch „tiefgreifende Auswirkungen auf die Opfer häuslicher Gewalt haben, insbesondere auf schutzbedürftige Erwachsene und diejenigen, die Englisch nicht als erste Sprache sprechen“.
Pragna Patel* prangerte das Problem an: Viele Frauen sind gezwungen, auf diese gemeinschaftlichen Vermittlungssysteme zurückzugreifen, und zwar „nicht aus freien Stücken, sondern aus Angst vor Stigmatisierung, Isolation und sogar gewalttätigen Konsequenzen“.
Unparteilichkeit der Justiz und der Fall Italien
Andererseits ist die Frage der Unparteilichkeit der Justiz, d. h. die Notwendigkeit, gemeinsame Regeln vor religiösen Regeln und Diktaten zu schützen, auch für uns in Italien ein Thema.
In der jüngsten Debatte über das Gesetz 194, das regelmäßig sowohl aus politischen als auch aus religiösen Gründen untergraben wird, zeigt sich, dass die Distanz zwischen der neugeborenen englischen Erfahrung und dem, was auch in unserer Gesellschaft passiert, alles andere als abgrundtief ist.
Der Cavoursche Grundsatz der freien Kirche im freien Staat wird auch in unserem Land missachtet. Zum Beispiel, was den Religionsunterrichts an den italienischen Schulen betrifft. Oder, was besonders schmerzlich ist, der Missbrauch der Gewissensfreiheit von Ärzten, der dazu führt, dass Frauen nach Schwangerschaften infolge von Missbrauch und Gewalt nicht die notwendige Unterstützung erhalten.
So besorgt wir auch über die in einigen Religionen zum Ausdruck gebrachten Positionen gegen die Freiheit der Frau und der Geschlechter sind – die Frage des Einflusses der Religionen auf den Gesetzgebungsprozess wirft einige Fragen auf.
Gesetz und Evangelium
Als Lutheraner sind wir uns darüber im Klaren, dass Gesetze nicht auf bestimmte oder religiöse Interessen ausgerichtet sein dürfen. Selbst im Wissen, dass es Freiheiten geben kann, die die Grundsätze des Glaubens untergraben.
Luther war der Meinung, dass die richtige Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium in der Theologie von größter Bedeutung sei.
In der Predigt° über den Galaterbrief, Kapitel 3, Verse 23 und 34, bekräftigt Martin Luther in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium: „Denn dieser Unterschied zwischen dem Gesetz und Evangelio ist die höchste Kunst in der Christenheit, die alle und jede, so sich des christlichen Namens rühmen, oder annehmen, können und wissen sollen.“
Natürlich waren für Luther am 1. Januar 1532 sowohl das Gesetz als auch das Evangelium „Wort Gottes“. Er unterscheidet jedoch die Funktion des einen vom anderen: „Ist es aber in Gesetzen vonnöthen, daß man sie von einander scheide, und die Personen, darauf sie gerichtet sind, recht ansehe.“
Und in dieser Unterscheidung liegt der Sinn des Respekts, den wir vor den Gesetzen des Staates im Hinblick auf die Trennung zwischen Interventions- und Interessenbereichen haben.
Wir erkennen die Rolle der Gesetze bei der Regulierung des sozialen Lebens an, aber gleichzeitig erkennen wir das Gewissen als Grenze für ihren Gebrauch oder Missbrauch.
Deshalb sind wir der Meinung, dass der Grundsatz der Freiheit des Handelns nicht zu einem Missbrauch des Handelns führen darf, oder zu einer Bequemlichkeit des Handelns, um nicht zu denken.
Ebenso wären wir besorgt, wenn irgendeine Form religiöser Konditionierung Gesetze beeinflussen und verbiegen würde, die eigentlich dem Gemeinwohl dienen sollten.
Weitere Informationen *Pragna Patel ist Gründungsmitglied der Southall Black Sisters und des Project Resist, einer Interessengruppe für Frauen, die einer Minderheit angehören. Artikel von Pragna Pater in The Guardian, hier (auf Englisch) °Predigt von Martin Luther, hier (auf Deutsch).