Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen! (Jes.5,20)
Wort zum Monat November – 01.11.2022
„Ich will zu meinem Vater gehen“. Das sagt in einer biblischen Geschichte ein Sohn zu sich selbst, der sogenannte „verlorene Sohn“:
Er ist von zu Hause ausgezogen, auf der Suche nach Freiheit und Abenteuer. Er hat dabei sein Erbe verprasst, und weil er kein Geld mehr hat, muss er nun Schweine hüten und von dem essen, was sie übriglassen. „Ich will zu meinem Vater gehen“, sagt er. Er weiß, sein Vater wird ihn – trotz allem, was gewesen ist – mit offenen Armen empfangen.
Jesus, der dieses Gleichnis erzählt, zeigt darin einen Gott, der barmherzig ist und sich nach seinen Kindern sehnt.
Ich frage mich, wie es passieren konnte, dass über Jahrhunderte in der kirchlichen Verkündigung ein Bild von Gott gezeigt wurde, das die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Da verhängt ein allmächtiger Gott im Himmel willkürlich Schicksale über die Menschen: für die einen das Glück, für die anderen das Unheil. Und man wage es ja nicht zu hinterfragen, warum.
Unbarmherzig verurteilt dieser Gott diejenigen, die sich ihm widersetzen, er richtet sie nicht nur, er richtet sie hin. Anschaulich ist das in vielen Kirchen ausgemalt, da wandern die einen von Engeln umschwebt in den Himmel, während andere hinabgestoßen werden in einen Höllengrund. Und manche Prediger und Predigerinnen verkündigen geradezu lustvoll ein gnadenloses jüngstes Gericht oben von ihren Kanzeln herab. Als verhängten sie es selbst, als wähnten sie sich selbst als Verwalter der göttlichen Unerbittlichkeit.
Hier ist Gut und Böse auf die fatalste Weise verdreht worden. Menschen haben sich angemaßt, was nur Gott zusteht. Über andere zu urteilen und zu richten.
Gott aber entwürdigt oder tötet nicht. Erst recht nicht ermächtigt er Menschen, solches zu tun.
Er stellt uns vielmehr infrage und bringt uns zurecht.
Wo Menschen ihn reduzieren auf den Allwissenden, der unbarmherzig und kontrollierend über uns wacht, wo sie sich anmaßen, Verwalter und Vollstrecker einer solchen Allmacht zu sein, da wird Gott selbst zu einem verlorenen Vater.
Ich stelle mir darum vor, Gott dürfte aussteigen aus der düsteren Rolle des erbarmungslosen Allmächtigen, der Unmögliches von uns verlangt. Niemand müsste mehr einen Machtkampf mit ihm ausfechten, bis einer der Kämpfenden sich vor Angst in die Hose macht.
Gott dürfte zum Vater werden, der mich mit offenen Armen empfängt. Oder auch zum Vater, der hinter mir ist. Und während der herrliche Wind der Freiheit mir ins Gesicht weht, spüre ich ihn im Rücken und weiß: Er ist da, hinter und neben mir.
Rollenwechsel
Manchmal wünschte ich mir eine Art Erlassjahr für Gott,
in dem nicht von seiner Allmacht gesprochen würde.
Er dürfte die Kleider ablegen, die ihn ausstatten mit Macht:
Den Königsmantel zieht er aus
und lässt sich als Säugling, gewickelt in Windeln, in eine Krippe legen.
Die düstere Robe des Richters
tauscht er gegen den farbenfrohen Rock einer Künstlerin,
die bis heute immer neue Impulse für das Leben gibt.
Die ihm verhasste Haube des Henkers reißt er sich herunter
und umkleidet sich mit Barmherzigkeit.
Und dann macht er sich auf den Weg: ein verlorener Vater, der zu seinen Kindern geht.