Sterbehilfe und Sterbebegleitung
Von der Synode der ELKI angenommen während der Sitzung 2004 in Vico Equense (NA) durch den Beschluss 2004/VI
Die Evangelisch Lutherische Kirche in Italien sieht sich dazu aufgerufen, einen Beitrag zur ethischen Urteilsbildung in der Frage der kontrovers geführten Sterbehilfe-Diskussion zu leisten.
Folgende Gesichtspunkte zur christlichen Anthropologie und Ethik leiten uns bei unseren Überlegungen:
- Der Mensch als Geschöpf Gottes ist wesentlich ein Sein in Beziehung. Er lebt in Beziehung zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zu seiner natürlichen Umwelt und zu Gott. Ihn in erster Linie als autonomes Wesen zu definieren, erfasst daher nur eine Seite seines Seins und greift als Gesamtbeschreibung des Menschen zu kurz. Der Mensch ist immer und in allen seinen Lebensphasen auch ein angewiesenes, bedürftiges und abhängiges Wesen.
Dass Gott sich seiner annimmt und seiner gedenkt (Ps 8,5), ist seine Grundbestimmung. Von Gott her ist er unwiderruflich und bedingungslos bejaht, auch dann, wenn die Anerkennung und Bejahung durch andere Menschen widerrufen wird (wie es im Akt der Tötung geschieht). - Weil Gott die Beziehung zum Menschen herstellt, ist auch sein Personsein von Gott her zu verstehen. Nicht ich mache mich zu der Person, die ich bin. Mein Personsein ist dann aber auch nicht zerstörbar, wenn bestimmte Kriterien wegfallen. Der Personbegriff aus der angelsächsischen Tradition – der Mensch als rationales, selbstbewusstes Wesen, das “Ich” sagen kann, Vergangenheit und Zukunft, Wünsche und Ängste hat – ist theologisch gesehen defizitär.
- Eine Diskussion um den Wert eines Menschenlebens kann und darf es daher nicht geben. Der Mensch hat (so Kant) keinen Wert – diesen haben nur Sachen -, sondern er hat Würde. Diese gilt unbedingt und wird nicht durch eigenes Handeln konstituiert. Dies meinen wir, wenn wir vom Primat der Gnade vor allem Handeln sprechen. Die aktive Euthanasie und die Beihilfe zum Suizid sind nicht Ausdruck der Freiheit des Individuums, sondern im Gegenteil Vernichtung dieser Freiheit, indem sie das Subjekt der Freiheit selbst vernichten (Kant).
- Zum Wesen des Menschen gehört auch, dass er leidensfähig ist. Das bedeutet nicht, dass ihm vermeidbares Leiden zugefügt werden darf. Im Gegenteil: abwendbares Leiden muss abgewendet werden. Nicht alles Leiden ist jedoch vermeidbar. Die Illusion einer „Abschaffung“ des Leidens zerstört die menschliche Fähigkeit, leidensfähig und damit auch liebes- und beziehungsfähig zu werden. Als Christen haben wir keine Erklärung, keine Sinngebung und keine Rechtfertigung für das Leiden. Zum einen kämpfen wir wie Jesus gegen das menschliche Elend, zum anderen aber leben wir in der „Gemeinschaft der Leiden Christi“ (Phil 3,10) und sind so „Teilhaber der Leiden“ (2 Kor 1,7) mit der Verheißung, auch Teilhaber des Trostes zu sein.
- Das Bild des gekreuzigten Christus zeigt uns, dass kein Leiden und keine Entstellung dessen, was uns ein wünschenswertes Leben zu sein scheint, die menschliche Würde vernichtet. Der Gekreuzigte steht gerade für deren Unantastbarkeit.
Aus diesen Vorüberlegungen leiten wir folgende Konsequenzen ab:
Allianz gegen die Angst
1. Die öffentliche Diskussion um die Ermöglichung der Beendigung von Leben unter medizinischem Aspekt ruft Unsicherheit und Angst hervor. Der Umgang mit dem Thema Tod und den ihn umgebenden Nöten ist ein Tabu in der westlichen Gesellschaft geworden. Betroffene und ihre Angehörige dürfen in dieser Situation nicht allein gelassen werden. Eine Hilfestellung in diesem Dilemma muss den Beteiligten bereits vorzeitig informieren, Schwellenängste abbauen und ihnen zur Bildung eines informierten Gewissens verhelfen, das sich auch in Grenzmomenten des Daseins in eine christlich-abendländische Wertetradition gestellt weiß und sein Handeln an diesen Vorgaben ausrichten will. So richtet sich diese Stellungnahme sowohl an Betroffene, denen die Frage nach vorzeitiger Beendigung des Lebens durch biografische Ereignisse nahe rückt als auch an die an einem lutherischen Standpunkt interessierte Öffentlichkeit und postuliert eine “Allianz gegen die Angst”, die Sterbenden, Angehörigen und Ärzten in der Gesellschaft Sinnangebote und Ausführungsvorschläge für die Entwicklung einer eigenen Position anbietet.
2. Allen sich in das Gewand von Fortschritt und Freiheit hüllenden Forderungen nach Freigabe der aktiven Euthanasie sollen wir als Christen kritisch und wachsam gegenüber stehen. Eine Gesetzesveränderung nach niederländischem bzw. belgischem Modell halten wir für einen gefährlichen Weg. Das Tötungstabu gerade den Schwächsten gegenüber sollte in der Rechtsordnung verankert bleiben. Von daher lehnen wir jede Form der gesetzlichen Ermöglichung einer vorzeitigen Beendigung des Lebens ab.
Wir teilen die Befürchtungen der niederländischen reformierten Kirchen, dass mit einer Liberalisierung der Gesetzgebung in dieser Frage eine schleichende Veränderung des gesellschaftlichen Klimas einhergeht. Wenn aktive Euthanasie eine normale Option wird, ist auf lange Sicht das Lebensrecht von Schwachen, Alten, Schwerkranken und Behinderten nicht mehr selbstverständlich. Die „schiefe Bahn“ ist längst betreten: das belgische Gesetz sieht Euthanasie auch für psychiatrische Patienten vor und solche, die sich nicht im terminalen Stadium einer Krankheit befinden. Die Grauzonen sind nicht verschwunden, sondern eher größer geworden; die Akzeptanz auch von unfreiwilliger Euthanasie ohne Einwilligung nimmt zu.
3. Die Ängste der Menschen, nicht in Würde sterben zu können, sind ernst zu nehmen. Die angemessene Antwort darauf kann aber nicht die Freigabe der aktiven Euthanasie sein, sondern die Verbesserung palliativer Maßnahmen, effektive Schmerzbekämpfung, der Ausbau von häuslicher Pflege und Hospizen sowie eine stärkere Beachtung des Patientenwillens.
Wir befürchten, dass die technische und billige Lösung der Euthanasie, zumal in Zeiten des Abbaus sozialer Leistungen in ganz Europa, die Bemühungen um eine menschliche Sterbebegleitung mit Hilfe der oben genannten Maßnahmen konterkarieren wird. Ein „Recht auf einen selbstbestimmten Tod“ gibt es nach christlichem Verständnis nicht, wohl aber das Recht, im Sterben nicht allein gelassen zu werden, das Recht auf Schmerzlinderung und Basisversorgung und auf menschlichen Beistand, der solidarisch um die eigene Ohnmacht angesichts des Todes weiß. Der Philosoph Emmanuel Lévinas spricht vom „ethischen Widerstand“, dem „Widerstand dessen, was keinen Widerstand leistet“ im Antlitz des Anderen, in dem mir der unbedingte Imperativ begegnet: „Du sollst mich nicht töten“ und „Du sollst mich im Sterben nicht allein lassen.“
4. Als Christen bemühen wir uns um differenziertes Denken und genaues Unterscheiden in den zur Diskussion stehenden Fragen. Wir bestehen auf dem fundamentalen ethischen Unterschied zwischen „sterben lassen“ und „töten“, d.h. zwischen passiver und aktiver Euthanasie, auch wenn wir uns bewusst sind, dass es in der medizinischen Praxis strittige Situationen geben kann, z.B. in der Frage der Einstellung der künstlichen Ernährung bei Wachkoma-Patienten. Den Einsatz aller medizinisch möglichen Mittel in aussichtslosen Fällen („accanimento terapeutico“) lehnen wir ab; er wird auch von keinem ärztlichen Kodex gefordert.
Entscheidend für die ethische Beurteilung ist nicht der physische Handlungsvorgang, sondern die Intention: im „Sterben lassen“ verzichtet der Arzt auf die Fortführung seiner Kunst in der Einsicht um die Grenzen der medizinischen Intervention, um der Natur ihren Lauf zu lassen; Ziel ist das „Sterben können“. In der aktiven Euthanasie behält er die letzte Gewalt über Leben und Tod; Ziel des Handelns ist die Herbeiführung des Todes. Dies widerspricht allen ärztlichen Kodices von der Antike bis heute. Wenn Euthanasie zum Handlungsrepertoire des Arztes wird, fürchten wir unabsehbare Konsequenzen für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.
5. Die Patientenrechte müssen gestärkt werden. Der Patient hat ein Anrecht auf vollständige und wahrheitsgemäße Information über seinen Zustand. Er hat das Recht, im vollen Bewusstsein der Konsequenzen eine Behandlung abzulehnen. Patiententestamente geben bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten wichtige Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen. Dennoch ist der Arzt nicht nur Erfüllungsgehilfe des Patientenwillens: es kann von ihm keine unethische Handlung wie die Tötung auf Verlangen erwartet werden.
6. Wir verkennen nicht, dass es Grenzsituationen gibt. Diese müssen als Ausnahmen und Einzelfälle beurteilt werden und dürfen gerade nicht als Argument für eine Aufweichung des in der Rechtsordnung verankerten Tötungstabus dienen. Gerade eine äußerste Gewissensentscheidung für eine Handlung der aktiven Euthanasie oder der Suizidbeihilfe braucht den Schutz von Freundschaft und Intimität sowie die Bereitschaft, das Recht zu verletzen und die Konsequenzen auf sich zu nehmen – in der Hoffnung auf die Gnade Gottes und im Vertrauen, mit der verantworteten Entscheidung auch vor den weltlichen Gerichten bestehen zu können
Pfarrkonferenz der ELKI – März 2003