Synode 2021

„Bestand, Wandel, Zukunft - Die Barmherzigkeit als Verantwortung der Kirche“ 2. Sitzung der XXIII. Synode der ELKI 29. 04.- 01. 05. 2021 Online

Ehrengast LWB Generalsekretär Pfarrer Martin Junge
Übertragung offen auch für nicht Synodale
Thematische Arbeitsgruppen:
Gender, Digitalisierung, Jugendarbeit, Umwelt, Aufarbeitung Coronazeit, Diakonie

„Seid, werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Barmherzigkeit ist die Jahreslosung für das Jahr 2021 und Barmherzigkeit wird auch im Zentrum der 2. Sitzung der XXIII. Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien stehen. „Bestand, Wandel, Zukunft – Die Barmherzigkeit als Verantwortung der Kirche“ lautet das Thema der Synode.

„Im Blick nach vorne ist Vieles offen in der derzeitigen schwierigen Situation der Pandemie“, erklärt der Dekan der ELKI, Heiner Bludau, die Wahl des Themas. „Das gilt auch für unsere Kirche. Darüber nachzudenken ist ein wichtiger Teil der Tagesordnung. Und dazu gehört auch die Frage, welchen Beitrag wir leisten können für den weiteren Weg der gesamten Gesellschaft.“ Kirche, so der Dekan, sei aber nicht nur eine gesellschaftliche Institution. „Sie ist die Gemeinschaft derer, die an den dreieinigen Gott glauben.”

Das Synodal-Präsidium, Wolfgang Prader und seine Stellvertreterin Ingrid Pfrommer, hat gemeinsam mit dem Konsistorium der ELKI nach reiflicher Überlegung entschieden, die Synode nicht in Präsenz, sondern online abzuhalten. So wird zwar die Möglichkeit zur persönlichen Begegnung außerhalb der Sitzungen fehlen, aber dafür ist die Synode nicht nur allen Mitgliedern der Kirche, die in 15 Gemeinden über ganz Italien vom Brenner bis Sizilien verteilt sind, sondern auch allen Interessierten, die sich anmelden (unter www.chiesaluterana.it), erstmals online von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort aus zugänglich.

„Die Pandemie bestimmt die Vorbereitungen für die diesjährige Synode“, betont Synodalpräsident Wolfgang Prader. Technische Möglichkeiten müssen ausgelotet, Plattformen geprüft und getestet werden, um einen geregelten Ablauf für die Synodalen gemäß den Satzungen gewährleisten zu können. „Ich hoffe und wünsche uns für die diesjährige Synode, dass wir es schaffen werden auch online, für uns wichtige Themen und Anliegen intensiv zu diskutieren und so gute und zukunftsweisende Entscheidungen treffen zu können.“

Ehrengast der 2. Sitzung der XXIII. Synode ist am Freitag, 30. April, der General-Sekretär des Luther Weltbundes, Martin Junge. Von seinem Vortrag, ebenso wie von den sechs Arbeitsgruppen, die am zweiten Tag der Synode, Freitag, 30. April, zu den Themen Gender; Digitalisierung; Jugendarbeit; Umwelt; Aufarbeitung Coronazeit sowie Diakonie abgehalten werden, erwartet sich die Evangelisch-Lutherische Kirche in Italien wichtige Impulse.

Erst sechs Monate zuvor, vom 9. bis 11. Oktober 2020 hat die 1. Sitzung der XXIII. Synode mit mehrmonatiger Verspätung in Rom in Präsenz stattgefunden, auf der das neue Synodal-Präsidium mit Wolfgang Prader als Präsident und Ingrid Pfrommer als Vizepräsidentin gewählt worden ist.

Komplizierte Zeiten für die Menschen und komplizierte Zeiten für die Kirche, der es gelungen ist, unter Achtung aller Pandemie-Einschränkungen, die Gläubigen in diesen von Angst, Trauer und Einschränkungen gezeichneten Monaten seelsorgerisch zu begleiten. Neue Wege haben sich aufgetan, alte sich verschlossen. Eines der wichtigen Themen der Synode, neben Gender und Digitalisierung wird die Verarbeitung der Coronavirus-Pandemie sein. Barmherzigkeit ist hierbei ein wichtiger Aspekt!

Interviews

„Kirche ist vor allem durch die Diakonie sichtbar“

Christine Fettig, Konsistorialrätin aus Triest

Christine Fettig ist seit Jahren in ihrer Gemeinde Triest immer dort, wo gerade jemand gebraucht wird. Auf der Synode 2020 wurde die langjährige Synodale ins Konsistorium gewählt. Eines ihrer Themen ist die Gendergerechtigkeit.

Gendergerechtigkeit ist ein vieldiskutiertes Thema, nicht nur in den Kirchen. Ihnen ist es ein besonderes Anliegen, sie haben auch in der Gender-Kommission an der Erstellung des Grundsatzpapiers mitgearbeitet, das bei der Synode verabschiedet werden soll. Sind Sie optimistisch?

Christine Fettig: Dieses Thema wird leider immer noch als „reines“ Frauenthema angesehen, dabei ist die ganze Gesellschaft davon betroffen. Das hat auch die Beteiligung der Gemeinden gezeigt. Alle waren aufgerufen, sich einzubringen, aber wir haben nur sieben Rückmeldungen erhalten. Gender ist ein Thema, das gerade auch von den jungen Menschen als sehr wichtig erachtet wird. Ich würde mich freuen, wenn unser Dokument von der Synode angenommen wird. Es ist wichtig, dass wir als Kirche eine Position beziehen, die sich an unseren Werten festmacht und gleichzeitig signalisiert, dass wir eine eigenständige Kirche sind, die mit der Zeit zu gehen weiß. Und es würde mich nicht zuletzt auch deshalb freuen, weil wir mit LWB Generalssekretär Martin Junge einen Ehrengast haben, dem dieses Thema ebenso ein wichtiges Anliegen ist.

Sie sind seit wenigen Monaten im Amt. Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht?

Christine Fettig: Ein knappes halbes Jahr. Das erinnert mich an meine Schulzeit und daran, dass es immer wieder Parallelen im Leben gibt. Ich wurde 1966 eingeschult, ein Kurzschuljahr, von April bis November. Ebenso wie mein zweites Schuljahr, das von Dezember bis Juli ging. Schlussendlich ist es damals auch gelungen, alle Inhalte in der verkürzten Zeit unterzubringen. Es tut mir leid, dass unsere bisherige Zusammenarbeit im Konsistorium nur online vonstatten ging, der persönliche Austausch fehlt, aber wir haben das Beste daraus gemacht! Auf der anderen Seite ist das digitale Format auch eine Chance. Ich habe an vielen Sitzungen teilnehmen können, von Kommissionen, vom Frauennetzwerk, von den Gemeindepräsidenten, ohne wertvolle Zeit für Transfer zu verlieren. Und ich habe dadurch wichtige Einblicke gewinnen können in das Universum ELKI.

Und nun ist auch die Synode online…

Christine Fettig: Wir hätten uns alle eine Präsenz-Synode gewünscht, aber wir müssen realistisch sein. Und wir können uns glücklich schätzen, dass unser Synodal-Präsident Wolfgang Prader ein IT-Experte ist und das Dekanat sich so kompetent dieser Angelegenheit annimmt. Es ist eine enorme Verantwortung und technisch und organisatorisch ein großer Aufwand. Was mich dabei freut, ist dass dieses Format allen Gemeindegliedern und auch Interessierten die Chance gibt, in eine Synode hinein zu schnuppern. Ich hoffe sehr, dass davon Gebrauch gemacht wird.

Glauben Sie, dass die digitale Modalität auch nach der Pandemie genutzt werden wird?

Christine Fettig: Für Sitzungen ganz bestimmt. Es ist ein nützliches Mittel, spart Zeit und Kosten. Wichtig ist meiner Ansicht nach, ein Wechsel von persönlichen und online Treffen. Ich muss zugeben, dass ich in den wenigen Monaten meiner Amtszeit gemerkt habe, dass der Zeitaufwand tatsächlich erheblich ist. Zu den Kirchengremien kommen ja auch Treffen in der Ökumene, mit den Waldensern u. a. m. Ohne das digitale Format hätte ich dieses Pensum neben meiner Arbeit wahrscheinlich gar nicht geschafft.

Haben Sie konkrete Vorstellungen für die Zeit nach der Pandemie?

Christine Fettig: Ich hoffe einfach, dass es weitergeht. Es liegt so vieles lahm und es gibt so viele wichtige Themen: OPM, Digitalisierung, Gendergerechtigkeit, Diakonie, Jugend. Wir müssen einfach unbeirrt weitermachen. Ich hoffe sehr auf einen positiven Impuls durch Covid. Auf den Willen zum Aufbruch.

Wie sehen Sie die Verantwortung der ELKI in der Gesellschaft?

Christine Fettig: Wir sollten gerade im Bereich Diakonie sichtbarer arbeiten, um auf nationaler Ebene wahrgenommen zu werden. Wenn die Gemeinden sich zusammentun, kann mehr erreicht werden. Einige Gemeinden hätten Mittel, aber keine Leute, bei anderen ist es umgekehrt. Für mich läuft die Sichtbarkeit einer Kirche vor allem über die Diakonie, deswegen heißt es hier über die lokale Reichweite hinauszugehen.

Als Konsistoriums-Mitglied erhalten Sie Einblick in alles…

Christine Fettig: Auf jeder Konsistoriums-Sitzung geht es um Entscheidungen für die ELKI und für 15 Gemeinden. Es geht um Kostenvoranschläge und Finanzierungen, um Personalfragen, um zukunftsweisende Entscheidungen. Das ist sehr viel und will gut vorbereitet sein. Und hier haben wir alle im Dekanat einen zuverlässigen und bestens organisierten Partner. Ich bin immer auf dem neuesten Stand und alle meine Fragen werden umgehend behandelt. Die Arbeit im Konsistorium ist anstrengend aber auch sehr motivierend. Jede Gemeinde ist eine Welt für sich. Diese zu entdecken, ist sehr spannend!

"Wir Lutheraner unterscheiden uns durch unsere Freiheit"

Cordelia Vitiello, gesetzliche Vertreterin der ELKI und Ratsmitglied des LWBs

Sie ist eine Frau mit vielen Ressourcen und Verpflichtungen. Gesetzliche Vertreterin der ELKI, Präsidentin des Evangelischen Krankenhauses Bethanien in Neapel, Ratsmitglied des Lutherischen Weltbundes, involviert in verschiedene diakonische Projekte in ihrer Heimat, Neapel und Umgebung. Mit einer deutschen Mutter und einem neapolitanischen Vater repräsentiert Cordelia Vitiello auch die bi-kulturelle Seele der ELKI. Und sie war es auch, die, ganz am Anfang der Pandemie, Covid am eigenen Leib erfahren hat. Zwei endlos lange Wochen in einem Krankenhaus in Catanzaro.

… eine Synode nur sieben Monate nach der letzten…

Cordelia Vitiello: Ja, letztes Jahr konnten wir trotz Covid die Erfahrung einer Synode in Präsenz erleben – unter Beachtung aller Sicherheitsmaßnahmen natürlich. Jetzt bereiten wir uns auf die neue Erfahrung einer Synode im Onlinemodus vor. Aber wir wollten nicht noch einmal auf das Ritual der Synode im Frühjahr verzichten. Auch das ist für das Leben der Kirche von Bedeutung. Es wird ein Experiment sein und wer weiß, vielleicht können wir auch als Modell dienen für andere.

Sehen Sie die Zukunft der Kirche digital?

Cordelia Vitiello: Der digitale Modus ist wichtig für die Zukunft, keine Frage. Er ermöglicht viele Dynamiken, öffnet viele Türen, gibt uns Sichtbarkeit. Durch die Covid bedingte, experimentelle Online-Präsenz sind wir auch für viele neue Sympathisanten sichtbarer geworden. Die Pandemie hat den Digitalisierungs-Prozess beschleunigt. Das Online-Format hat uns geholfen, trotz der Trennung, Nähe zu vermitteln. Diese Erfahrung müssen wir ausbauen und auch in Zukunft nutzen, für jene, die aus welchen Gründen auch immer, an der Teilnahme verhindert sind, die entfernt sind. Aber wir dürfen dabei nie vergessen, wie wichtig die Begegnung von Mensch zu Mensch, die menschliche Nähe ist, die unseren Gemeinden Leben gibt

Fünfzehn lange Monate der Pandemie – ein besonderer Moment.

Cordelia Vitiello: Ein ganz besonderer historischer Moment, ein Moment, in dem es noch wichtiger ist, in unserem unmittelbaren Umfeld Gutes zu tun, als Bürger und als gläubige Christen. Unsere Kirche, unsere Gemeinden sind durch diakonische Aktivitäten fest im Territorium verwurzelt. Covid oder nicht Covid, es gibt immer Menschen in Not, denen wir beistehen müssen.

Die Kirche lebt also durch Diakonie?

Cordelia Vitiello: Ohne Zweifel, aber nicht nur. Spiritualität ist ebenso wichtig, und wir Lutheraner zeichnen uns durch unsere besondere Spiritualität aus. Wir müssen uns unserer Geschichte bewusst sein und gleichzeitig dem Neuen öffnen. Wir müssen in der Lage sein, alle anzusprechen, insbesondere auch die jungen Menschen. Auch, gerade auch, weil dieses sich ganz allgemein immer mehr vom kirchlichen Umfeld entfernen.

Im Mittelpunkt der Synode stehen mehrere Themen von großer Aktualität: Umwelt, Jugend, diakonisches Handeln, Geschlechtergerechtigkeit, um nur einige zu nennen…

Cordelia Vitiello: Wir Lutheraner zeichnen uns durch unsere Freiheit aus. Ich sage immer, dass wir, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Italien, für eine, ich nenne es „gute“ Politik stehen, eine Politik im Dienst der Menschen. Wir kümmern uns um Migranten, Ausgegrenzte, Bedürftige, wir segnen – dies auch im Zusammenhang mit Gendergerechtigkeit – grundsätzliche alle Paare. Wir schauen der Realität ins Gesicht, wir geben Hilfe und Trost, und wir reagieren auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft, die im kontinuierlichen Wandel begriffen ist.

Außerdem wird es eine Arbeitsgruppe geben, die sich mit der Verarbeitung der Corona-Zeit befasst. Sie selbst haben die Krankheit erlebt. Was erwarten sich Ihrer Meinung nach jene, die diese Gruppe wählen?

Cordelia Vitiello: Es war ein sehr heikler Moment, für jeden von uns. Jeder hat es anders erlebt, lebt es anders. Der eine hat Angst, der andere will es einfach nur hinter sich bringen, nicht daran denken. Andere möchten ihr Leben ändern oder haben es schon getan. Wieder andere haben das Bedürfnis, zusammen mit anderen, einen Sinn in dem Ganzen zu entdecken oder wollen verstehen wie die Zukunft aussehen kann… ich denke, das Wichtigste ist, ein Zeichen der Hoffnung zu setzen und vorwärts zu gehen. Unsere Mission und unsere Werte zu verwirklichen.

Ehrengast der Synode ist Pfarrer Martin Junge, Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes. Wie sehen Sie als Ratsmitglied des LWB seine Anwesenheit und die Tatsache, dass er die Einladung angenommen hat?

Cordelia Vitiello: Ich denke, es ist eine sehr bedeutungsvolle und starke Geste, auch der Nähe zu unserer Kirche. Ein starkes Signal für uns, als Evangelisch-Lutherische Kirche in Italien. Aber auch ein Zeichen, dass wir zwar eine kleine Realität sind, uns aber dennoch in einem weiten Feld bewegen und dass es zwischen uns und der Weltkirche eine gute und direkte Verbindung gibt.

"Zu sehr auf Covid fokussiert"

Synodalpräsident Wolfgang Prader über Kirche und gesellschaftliche Verantwortung

Zunächst Vizepräsident und seit Oktober 2020 Präsident der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien. Wolfgang Prader, wie sein Vorgänger Georg Schedereit gebürtiger Südtiroler und damit von Kindesbeinen an zweisprachig, erwartet sich von der 2. Sitzung der XXIII. Synode wichtige Impulse für die Zukunft. Covid, so Prader, hat das Sichtfeld zu sehr eingrenzt, es ist an der Zeit, sich wieder der Themen anzunehmen, die von größter Bedeutung für die Zukunft sind, wie z. B. Umwelt oder die soziale Ungerechtigkeit.

Ist es ein Unterschied, eine Synode als Vizepräsident mit zu planen bzw. für sie als Präsident voll verantwortlich zu sein?

Wolfgang Prader: Ja, irgendwie schon! Auch wenn wir sehr eng und äußerst konstruktiv im Team zusammengearbeitet haben, aber die letzte Entscheidung liegt bei mir, und das ändert schon etwas!

Sind Sie ein Entscheidungsmensch?

Wolfgang Prader: Sagen wir so: Wenn ich eine Entscheidung treffe, dann stehe ich dazu. Ich entscheide aber nie vorschnell und bin sicher in erster Linie ein Teamworker, ich höre mir erst alle Stimmen an. Was ich nicht tue, ist, mich auf etwas zu versteifen, ich wäge grundsätzlich ab.

Im Vergleich zu den letzten Synoden, was war bei dieser ersten als Synodalpräsident die größte Schwierigkeit?

Wolfgang Prader: Wir hatten nur ein einziges Mal Gelegenheit uns persönlich auszutauschen, bei der ersten Konsistoriums-Sitzung gleich nach unserer Wahl. Danach lief alles nur über digitale Formate, Telefon, Email, Zoom, Teams… Das war von der Planung her sehr mühselig. Ein Gespräch ist eben doch anders, ist spontaner, setzt andere Gedankengänge in Gang, lässt mehr Spielraum… Digitale Treffen sind dafür außerordentlich effizient, aber die Gespräche nebenher, die außerordentlich bereichernd sind, die fallen weg.

Sie sind ja ein IT-Experte…

Wolfgang Prader: Ja natürlich. Und wir werden mit Sicherheit viele digitale Formate, die wir jetzt ausprobiert haben und die sich bewährt haben, auch in Zukunft einsetzen. Die Pandemie hat in dieser Hinsicht vieles vereinfacht und beschleunigt. Wir hoffen zwar, dass es unsere erste und einzige Online-Synode wird, aber es gibt ja auch positive Nebeneffekte. Zum Beispiel Zeitersparnis für Gäste, die von zuhause teilnehmen können, die Gelegenheit für alle Kirchenmitglieder, in die Synode hineinzuschauen. Vielleicht können wir in Zukunft ein hybrides Modell weiterführen, eine Präsenzsynode mit teilweiser Liveübertragung zum Beispiel.

Normalerweise hätten Sie ja viel mehr unterwegs sein müssen, in diesen sechs Monaten. Als Botschafter der ELKI sozusagen… 

Wolfgang Prader: Das stimmt. Und auch das ist ein Aspekt, der dieses erste halbe Jahr etwas überschattet hat. Wir hatten ein digitales Treffen mit den Waldensern. Wir haben an der Konferenz der Gemeindepräsidenten teilgenommen. Die nächste Versammlung der Konferenz der Europäischen Kirchen, KEK im Juni wird vermutlich ebenfalls online abgehalten. Und es ist auch noch nicht absehbar, wie es im Sommer und Herbst weitergehen wird.

Eine Synode unterliegt immer dem Anspruch der zukunftsweisenden Entscheidungen. Welche Herausforderungen sehen Sie im Augenblick?

Wolfgang Prader: Vielleicht das: Im Augenblick ist alles, wirklich alles auf Corona fokussiert. Zu sehr. Es gilt, wieder andere Themen in den Mittelpunkt zu rücken. Auch wenn Corona sehr einschränkend und sehr allumfassend ist, es gibt ebenso Dringendes, wenn nicht noch Dringenderes: Umwelt und die nachhaltige Entwicklung, ich denke hier an die Agenda 2030. Das ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit, die uns im Kollektiv, aber auch jeden, wirklich jeden einzelnen von uns betrifft und fordert! Es gibt das Thema der sozialen Gerechtigkeit, das durch die Pandemie noch gravierender geworden ist. Die soziale Schere klafft global, aber auch in unserer unmittelbaren Nähe immer weiter auseinander. Das Thema Zugang zur Bildung. Auch hier hat Corona die Situation vieler Familien, viel Kinder und Jugendlicher noch verschärft. Das Thema Gesundheit und Zugang zu medizinischer Betreuung. Ich sehe hier überall eine sehr große persönliche Verantwortung und eine sehr große Verantwortung der Kirche(n), unserer Kirche.

Hat die Kirche durch die Pandemie eine andere Rolle eingenommen?

Wolfgang Prader: Ich würde es anders sagen. Durch die Pandemie ist uns die Rolle der Kirche vielleicht bewusster geworden. In Bezug auf die Aufgaben der Kirche in Seelsorge und in der Gesellschaft. Wenn der Aspekt der Gemeinschaft wegfällt und Kirche digital gelebt wird und digital bespielt werden muss, passieren zwei Dinge: Zum einen merkt man, das etwas fehlt, was uns vorher als selbstverständlich galt. Zum anderen haben wir feststellen können, dass Kirche auch ein gesellschaftlich wichtiger Aspekt ist und dass auch Kirche in unterschiedlichen Formaten gelebt werden kann und gelebt werden muss!

Was erwarten Sie sich konkret von dieser Synode?

Wolfgang Prader: Ich erwarte mir, dass aus dem Dialog der sechs Arbeitsgruppen – in kleinerem virtuellem Umfeld – Entscheidungen zustande kommen, die den Weg der ELKI in die Zukunft bestimmen. Alle Themen sind wichtig und fordern konkrete Antworten für die Tätigkeit der Gemeinden: Umwelt, Gendergerechtigkeit, Diakonie, Jugendarbeit, Corona-Bewältigung und Digitalisierung.

Das Thema Gendergerechtigkeit ist in evangelischen Kreisen nicht unumstritten. Wie sieht es innerhalb der ELKI aus?

Wolfgang Prader: Wir setzen uns ohne Berührungsängste, offen und vorurteilsfrei damit auseinander. Wir haben das Thema in alle Gemeinden gebracht und alle mit einbezogen. Die Kommission hat ausgezeichnete Vorarbeit geleistet, aus der das gemeinsame Statement entstanden ist, von dem ich mir erwarte, dass es verabschiedet wird.

Die eucharistische Gastfreundschaft wird gerade in Deutschland sehr kontrovers diskutiert. Auf der Synode der ELKI ist das kein Thema?

Wolfgang Prader: Bei uns ist das kein Thema, jedenfalls kein Konfliktthema, weder für die Theologen noch für die Gemeinden. Wir halten uns an die Vereinbarung von Lund: bei uns sind grundsätzlich alle Getauften eingeladen.

Wo sehen Sie unmittelbaren Handlungsbedarf?

Wolfgang Prader: Wir müssen unsere Gemeinden und was sie leisten stärker in der Öffentlichkeit präsentieren und nach außen tragen, auch über digitale Plattformen. Mehr Sichtbarkeit ist eine Voraussetzung, um weiter zu wachsen.

"Barmherzigkeit im Mittelpunkt allen Handelns"

ELKI-Dekan Heiner Bludau: Jesus Ruf folgen, auch wenn der Weg nicht sicher ist

Heiner Bludau ist seit sieben Jahren Dekan der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien. Mit der 2. Sitzung der XXIII. Synode beginnt sein letztes Jahr, als Dekan und in Italien. Für ihn hat der Titel der Synode, Bestand, Wandel und Zukunft – Die Barmherzigkeit als Verantwortung der Kirche, eine ganz besondere tiefe theologische Bedeutung. Barmherzigkeit als Ausdruck allen christlichen Handelns, aus der Wahrnehmung – und der daraus folgenden Akzeptanz - des anderen heraus.

Es fehlen nur mehr wenige Tage bis zur Synode, der ersten Online Synode der ELKI. Wie fühlen Sie sich?

Heiner Bludau: Ich muss zugeben, immer nur am Schreibtisch sitzen, die meisten Kontakte auf den Bildschirm oder das Telefon beschränkt – und jetzt auch noch die Synode in dieser Modalität – das belastet mich schon. Es handelt sich zudem um meine vorletzte Synode. Eigentlich sollte ich bereits ab Februar 2022 in Pension gehen, aber ich hoffe, eventuell auch ehrenamtlich, auf jeden Fall noch bis zum Sommer 2022 verbleiben zu können.

Die 2. Sitzung der XXIII. Synode hat einen starken Titel: Bestand, Wandel, Zukunft: Die Barmherzigkeit als Verantwortung der Kirche. Ein Titel, der auf die Gesellschaft weist, aber auch sehr theologisch bestimmt ist?

Heiner Bludau: Nach 15 Monaten Pandemie ist es in meinen Augen sehr wichtig, eine Bestandsaufnahme zu machen. Wo stehen wir? Wo gehen wir hin? Vielleicht auch: Wer sind wir (geworden)? In dieser extremen Situation menschlichen Lebens, hat sich das Verhältnis zu uns selbst, zu den anderen geändert, mitunter auch von Grund auf. Viele Menschen stehen unter starkem Stress. Viele finden sich in von Grund auf veränderten Lebenssituationen wieder. Dies gilt es wahrzunehmen.

Und da kommt die Barmherzigkeit ins Spiel?

Heiner Bludau: Genau. Barmherzigkeit ist ja weit mehr als nur die diakonische, finanzielle Unterstützung bedürftiger Mitmenschen. Barmherzigkeit heißt, den Mitmenschen als ganze Person wahrzunehmen. Offen zu sein, alle anderen Menschen als ganze Person wahrzunehmen! Als Kirche sind wir eine Institution, die offen ist zur Gesellschaft, aber die einen eigenen Mittelpunkt hat. Für alle Impulse, die wir geben, ist diese Mitte wichtig. Sie wirkt sich auf alle Bereiche aus, selbstverständlich auch auf jene, die wir während der Synode in den Arbeitsgruppen vertiefen werden: Gendergerechtigkeit, Umwelt, Diakonie, die Bewältigung von Corona, Jugendarbeit und Digitalisierung. Barmherzigkeit ist ein Kriterium, das überall wichtig ist.

In Bezug auf die Frage der Gendergerechtigkeit und das Dokument über die Position der ELKI, das die Synode verabschieden soll, vielleicht in ganz besonderem Maße?

Heiner Bludau: Das stimmt. Bei der Genderfrage ist es wichtig, auf das kirchliche Zusammenleben zu achten, ebenso wie auf die Gesellschaft. Die Gleichheit aller Menschen ist für uns aus dem Glauben heraus selbstverständlich. Ich nehme den anderen wahr wie er ist! Ich bin sehr froh, dass dieses Thema vor der Synode auch in alle Gemeinden gegangen ist, die alle die Möglichkeiten hatten, sich in das Dokument miteinzubringen.

Und Barmherzigkeit in Bezug auf die Umwelt?

Heiner Bludau: Das ist noch einmal anders: Wer Gott als Schöpfer sieht, hat andere Grundlagen, einen anderen Ansatz als diejenigen, die in der Evolution nur ein Zufallsprodukt sehen. Unsere Beiträge kommen aus unserer Mitte, aus der Verantwortung für den anderen und für die Schöpfung. Und das ist wieder Barmherzigkeit.

Sind Sie zuversichtlich, dass trotz Online-Format das Gespräch in Gang kommt und Ergebnisse erzielt werden?

Heiner Bludau: Das Gespräch ist die Grundlage unseres Handelns. Die Pandemie hat hier zweierlei bewirkt: Zu einem eine große Schwierigkeit, das persönliche Gespräch fortzuführen. Zum anderen, gibt aber auch positive Aspekte. So sind z. wir Pfarrer und auch die Gemeinde-Präsidenten durch Corona und die Möglichkeit der Online-Sitzungen, mehr ins Gespräch gekommen als vorher. Das ist gut so und das wird bleiben. Aber ich habe dennoch Bedenken, dass das digitale Format das persönliche Element ausblendet. Und dabei ist das ist wichtig. Wir sind eine Kirche und kein Unternehmen. Eine Synode ist immer Anlass zur sehr offen geführten Debatte, zur kritischen Auseinandersetzung, zum Kritikäußern…Ich hoffe sehr, dass dies möglich sein wird.

Mit dem LWB-General Sekretär Martin Junge hat die ELKI einen ganz besonderen Ehrengast…

Heiner Bludau: Zustande gekommen ist diese Einladung und seine Zusage, weil wir auf weltweiter Ebene im Zusammenhang mit den 500 Jahrfeiern zur Exkommunizierung Luthers zusammenarbeiten. Ich habe das als sehr positiv empfunden, dass der LWB sich in Bezug auf den geplanten Festakt mit dem Vatikan, ausdrücklich an uns als Ortskirche gewandt hat. Sogar die nächste Ratssitzung hätte in Rom stattfinden sollen; jetzt wird sie allerdings digital abgehalten. Auch hier sehe ich wieder die Barmherzigkeit im Sinne der gegenseitigen Wahrnehmung. Ich denke mir, dass sein Vortrag sehr hilfreich für uns sein wird, beim Nachdenken über Bestand, Wandel und Zukunft.

Mit der Synode beginnt Ihr letztes Jahr. Nicht nur als Dekan, auch als Pfarrer Ihrer Gemeinde Turin und in Italien. Ist das schon Anlass für einen Rückblick?

Heiner Bludau: Ja, ich bin seit sieben Jahren Dekan und bin im Sommer elf Jahre in Italien in der kleinen, damals neugegründeten Gemeinde Turin. Ich muss sagen, dass diese elf Jahre aufregender waren, als alles, was ich bisher in meinem Berufsleben erlebt habe. Ich bin gerne in Italien und ich bin sehr mit der ELKI verbunden. Kirche war immer wichtig für mich, aber emotional habe ich mich noch nie so verbunden gefühlt, wie mit dieser kleinen Diasporakirche. Hier sind Dinge möglich, die andernorts anders laufen. Die Zusammenarbeit ist enger, das persönliche Engagement stärker. Ich hätte mir früher auch nie eine leitende Funktion in der Kirche vorstellen können. Aber natürlich, beurteilen müssen das andere. Ich habe versucht, mich dieser Herausforderung mit all meinen Kräften zu stellen. Ich bin mit mir im Einklang. Ich habe mich immer wieder des biblischen Bildes besonnen, das ich bei meiner Wahl vor Augen hatte, und aus dem ich lebe: Jesus geht über das Wasser und Petrus sagt zu ihm, Herr, rufe mich und ich werde Dir folgen… Auf einem Weg, der manchmal überhaupt nicht erkennbar ist und nicht begehbar zu sein scheint, der aber Schritt für Schritt im Schauen auf Jesus entsteht. Und selbst wer einsinkt, ist nicht verloren…

Wendepunkte…

LWB-Generalsekretär Martin Junge zu Corona, Abendmahl, Jugend, Klima- und Gendergerechtigkeit

Martin Junge, Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, ist Ehrengast der 2. Sitzung der XXIII. Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien und wird am Freitag, 30. April, um 15 Uhr in Streaming sprechen (in deutscher Sprache, live auch auf youtube und fb). In diesem ausführlichen Interview hat er dargelegt, welches für ihn die Eckpunkte und die Herausforderungen des Glaubens und einer modernen, mit den Menschen lebenden Kirche sind.

Die ganze Welt befindet sich seit über einem Jahr im Bann der Coronavirus-Pandemie. Die Verarbeitung dieser schwierigen Zeit für die Gesellschaft, für Politik und Wirtschaft, für jeden Einzelnen von uns und auch für die Kirchen, wird eines der Themen sein, die bei der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien behandelt werden. Wie sehen Sie die Auswirkungen der Pandemie, auch in Bezug auf wirtschaftliche Entwicklungsmodelle und soziale Ungerechtigkeit, und wo ist hier Handlungsraum für die Kirche?

Martin Junge: Die Pandemie hat sämtliche Lebensbereiche und Strukturen empfindlich getroffen, darunter auch die Kirchen. Sie leben ja davon, dass sie Menschen zusammenbringen, damit sie im Glauben wachsen und vom Glauben Zeugnis ablegen. Die Gemeinschaft, die die Kirche unter Menschen stiftet, musste nun online stattfinden. Das hat langfristige Auswirkungen, deren Ausmaß wir noch nicht voll überblicken können.
Ich habe tiefen Respekt für die Art und Weise, wie die Kirchen weltweit auf diese Situation reagiert haben. Sie haben kreative, theologisch verantwortete Handlungsweisen gefunden und umgesetzt, um das kirchliche Leben aufrecht zu erhalten. Ich bin besonders dankbar dafür, dass die lutherischen Kirchen sich an die behördlichen Verordnungen zur Bekämpfung der Pandemie gehalten haben. Wir Kirchen sollten nicht für die Ausbreitung des Virus bekannt werden, sondern für die Verbreitung der frohen Botschaft Jesu Christi.
In einer ökumenischen Erklärung wurde die Pandemie als „die große Offenbarerin“ bezeichnet (the great revealer). Sie hat tatsächlich Dinge offengelegt, die sehr problematisch sind. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Pandemie und Lebensstil, bzw. Umweltzerstörung wird von namhaften Wissenschaftlern immer wieder erwähnt. Die Pandemie hat die erschreckende Ungleichheit in der Welt nicht nur vor Augen geführt, sondern zum Teil auch noch verstärkt. Bis Anfang März sind 76% der Impfungen gegen COVID-19 in nur zehn Ländern verabreicht worden! Dabei ist doch klar: solange nicht alle geimpft und geschützt sind, ist keiner geschützt! Wir leben in einer einzigen Welt, das ist nun mal so. Inselmentalität und Abschottung wägen Menschen in falsche Sicherheit. Nationale Alleingänge haben nur begrenzten Erfolg. Nur globale Herangehensweisen werden uns weiterbringen, globale Probleme zu lösen. Das trifft übrigens nicht nur auf die Pandemie zu, sondern auch auf den Klimawandel.
Die Pandemie hat einen verkehrten Freiheitsbegriff offengelegt, der so vehement auf persönliche Freiheit pocht, dass er den Blick für die Gemeinschaft und das Allgemeinwohl versperrt. Ich denke, hier tut sich für die Kirche, und besonders für lutherische Kirchen, ein fruchtbares Feld auf. Denn wer Rechtfertigung allein durch den Glauben predigt, der predigt auch Freiheit. Allerdings eine Freiheit, die nicht selbstbezogen, sondern auf den Nächsten ausgerichtet ist.

Die Corona-Pandemie spielt auch im Zusammenhang mit einem weiteren wichtigen Thema eine Rolle: die Gleichstellung der Frau und ganz allgemein Gendergerechtigkeit. Frauen sind in besonderem Maße und vielerlei Hinsicht von den negativen Auswirkungen der Pandemie betroffen: Auf der Synode 2021 der ELKI wird ein Grundsatzdokument zur Gendergerechtigkeit zur Verabschiedung stehen. Welche Bedeutung hat dieses Thema für den LWB und für Sie persönlich?

Martin Junge: Es stimmt. Frauen sind überproportional von der Pandemie getroffen worden. Besonders schlimm finde ich die starke Zunahme an häuslicher Gewalt an Frauen. So in Peru, wo die eingegangenen Meldungen um 43% gestiegen sind, in Argentinien um 39%. So erschreckend diese Zahlen sind, bin ich dankbar, dass diese Statistiken geführt werden, als Beweis für eine Tatsache, die viele immer noch bestreiten, oder herunterspielen wollen.
Ich habe mich gefreut, als ich gehört habe, dass die ELKI auf ihrer Synode ein Grundsatzdokument zur Gendergerechtigkeit zur Verabschiedung vorlegen wird. Auf globaler Ebene ist dies im LWB im Jahr 2013 geschehen, eine Entwicklung, die in der Nachkriegszeit begonnen hat. Im Jahr 1984 hat der LWB auf seiner Vollversammlung in Budapest die theologischen Grundlagen für sich angenommen, wonach sowohl Männer als auch Frauen Zugang zum ordinierten Amt haben. Gerade vor zwei Wochen wurde die erste Bischöfin in einer lutherischen Kirche in Afrika gewählt, eine Nachricht, die wir mit großer Freude aufgenommen haben. Im Jahr 2002 verabschiedete der LWB das Dokument “Kirchen sagen NEIN zur Gewalt gegen Frauen”. Von da war es nur noch ein Schritt zum Grundsatzpapier: denn wer Gewalt gegen Frauen bekämpft, der kommt nicht umhin, das Thema der Rollenverteilung und ihrer Machtzuteilung aufzunehmen.
Der Weg ist noch lang. Wir erleben global gesehen, dass bereits erlangte Errungenschaften hinsichtlich der Gleichstellung von Männern und Frauen stark unter Druck geraten. Ein Revisionismus macht sich breit, auch im kirchlichen Bereich, wo Gendergerechtigkeit kurzerhand als “Ideologie” gebrandmarkt und diskreditiert wird. Ich halte die Diskussion um Gendergerechtigkeit für sehr wichtig; es handelt es sich außerdem um ein zutiefst evangelisches Anliegen, biblisch begründet und theologisch untermauert, dass wir in Christus in eine neue Gemeinschaft hereingerufen werden, in der es keine Unterschiede hinsichtlich Herkunft oder Gender geben soll.

Sie sagten in einem Interview: „Ein ökologisch geprägtes Menschenbild und die Berufung, für das Wohlergehen der gesamten Schöpfung zu sorgen, ist für uns eine Glaubenssache.“ Klimagerechtigkeit ist Glaubenssache? Sind sie zuversichtlich, wenn Sie in die Zukunft schauen?

Martin Junge: Es sieht nicht gut aus. Bergsteiger wissen, dass sie, wenn sie abrutschen, nur auf den ersten Metern die Möglichkeit haben, sich noch abzufangen. Einmal beschleunigt, gibt es kein Halten mehr. Die Wissenschaft belegt eindeutig, dass wir uns an diesem Wendepunkt befinden.
Das Pariser Klimaabkommen war eine unglaubliche politische Leistung, aber auch eine starke Botschaft der Willenskraft der Staatengemeinschaft, die schlimmsten Drohszenarien abwenden zu wollen. Leider ist jedoch einiges ins Stocken geraten, nicht zuletzt durch eine zunehmende Indifferenz vieler Staaten, bereits eingegangene Verpflichtungen auch umzusetzen.
Diese Umstände machen mich jedoch nicht hoffnungslos. Sie spornen mich eher an, gemeinsam mit anderen Akteuren (d.h., mit der Zivilgesellschaft, Regierungen, Wissenschaft, ökumenisch und interreligiös) auf die Veränderungen hinzuwirken, um eine weitere Erwärmung des Klimas und einen weiteren Verlust der Biodiversität zu verhindern.
Der Lutherische Weltbund hat im Jahr 2015 beschlossen, seine Geldanlagen nicht weiter in fossile Brennstoffe zu investieren. Seitdem ermutige ich die LWB-Mitgliedskirchen, diesen Schritt ebenfalls in Erwägung zu ziehen.
Dieser Beschluss wurde übrigens von der LWB-Jugend vorbereitet und vorangetrieben. Jugendliche (für uns: 18 – 30jährige) sind global gut vernetzt und arbeiten eng zusammen. Sie haben die Auseinandersetzung des LWB mit Fragen der Klimagerechtigkeit maßgeblich vorangetrieben. Dadurch ist die Frage der Klimagerechtigkeit auch immer deutlicher zu einer Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen geworden. Was hinterlassen wir da eigentlich unseren Kindern und Kindeskindern? Ist das richtig? Ist das gerecht?
Ich denke, dass mittlerweile klar ist, was alles getan werden muss. Es geht um eine Neuausrichtung des individuellen Lebensstils und des Wirtschaftens. Auch hier habe ich Hoffnung, auch weil ich große Beteiligungsmöglichkeiten für Kirchen sehe. Letztlich geht es doch um die Frage, was im Leben wichtig ist, womit man das Leben füllen will, was letztlich zählt. Der Ansatz, Sinnleere und existentielle Ängste mit immer mehr und immer wieder neuen Gütern zu füllen, steht vor dem Aus. Er ist nicht mehr vertretbar. Die Frage ist nun, wie die Menschen begleiten, sie zur Besinnung, zur Umorientierung bringen? Wie können wir eine tief verankerte Sicherheit im Glauben vermitteln, die den Menschen Ausgeglichenheit und Frieden bringt?
Diese Art von Veränderungen kann kein politisches Gipfeltreffen leisten. Und wenn, dann nur, weil die Grundlagen bei den Menschen dafür da sind. Politiker müssen ja auch immer ihre Wähler im Blick haben. Weil Kirchen und Glaubensgemeinschaften auf dieser anderen, tieferen Ebene agieren, haben sie ein riesiges Betätigungsfeld, und auch Potential, um den Klimawandel abzuwenden.

Was muss Kirche Ihrer Ansicht nach heute leisten, um junge Menschen anzusprechen?

Martin Junge: Sie muss junge Menschen beteiligen. Sie wollen keine Programme angeboten bekommen, schon gar nicht, welche, die ohne sie entwickelt wurden. Sie wollen an der Gestaltung und an der Durchführung beteiligt werden. Junge Menschen haben Anliegen, Träume, ihren Lebensstil, ihre Zukunftshoffnungen und –ängste, die die Kirche aufnehmen muss, um von ihnen als ein für sie relevanter Ort wahrgenommen zu werden.
Zugleich muss Kirche aufpassen, junge Menschen nicht zu überfordern und sie mit ihren eigenen Zukunftssorgen zu belasten, fast so als ob sie Heilsbringer wären und den erlebten Bedeutungsschwund der Kirche, oder ihren Mitgliederschwund richten könnten. Sie werden diesem unangemessenen Anspruch kaum entsprechen können.
Der LWB hat im Jahr 1984 ein Quotensystem eingeführt, wonach in unseren Gremien jeweils mindestens 40% Männer/Frauen vertreten sein sollen, und 20% junge Erwachsene (18-30 Jahre). Auf der letzten Vollversammlung im Jahr 2017 haben wir es endlich hinbekommen, dass auch die Jugenddelegation zur Hälfte aus jungen Männern und jungen Frauen bestanden hat. Bislang hatten wir nämlich oft sehr viele junge Frauen, und sehr viele ältere Männer in unseren Veranstaltungen. Das Quotensystem hat damit das Machtgefälle zwischen Männern, Frauen und Jugend nicht aufgefangen, sondern sogar verstärkt!
Grundsätzlich hilft das Quotensystem. Wir wären als LWB nicht an dem guten Punkt, an dem wir jetzt sind, wenn wir dieses Quotensystem nicht hätten. Es hat den LWB für Anliegen und Themen geöffnet, die ihm eine breit aufgestellte Relevanz verliehen haben. Das Thema Gendergerechtigkeit hätte sicherlich nicht den Vorrang, wenn in unseren Gremien nicht eine starke Frauenbeteiligung per Quotensystem vorgegeben wäre (wobei Gendergerechtigkeit letztlich keine Frauensache ist, sondern nur gemeinsam vorangebracht werden kann).
Und doch löst ein Quotensystem nicht alles, denn eine durch Quoten gewährleistete Partizipation ist keine Garantie. Wir arbeiten im LWB an Hilfestellungen für Kirchen, die sich eine stärkere Partizipation von Jugendlichen wünschen. Diese muss bewusst aufgebaut und gestaltet werden. Andernfalls kann es zu tiefer Frustration kommen, beidseitig übrigens, die dann für Jahre nachhallt.
Zurück zur Jugend: oft wird despektierlich über die “Smartphone-Generation” gesprochen, von einer Jugend also, die außer ihren Bildschirmen nichts mehr im Sinn habe. Ich frage dann immer: ja wer hat ihnen denn diese Smartphones bloß gegeben, manchmal sogar im zartesten Kindesalter? Wenn Jugendliche heute so sind, wie sie sind, dann auch auf Grund dessen, was wir ihnen mit auf den Weg gegeben haben.
Und überhaupt: ich erlebe Jugend als interessiert und engagiert. Die wollen was! Sehen Sie sich doch bloß die globale Bewegung zur Klimagerechtigkeit an. Mit ihren Smartphones und Bildschirmen haben sie sich informiert, vernetzt und mobilisiert. So geht das eben heute.

Im Vorfeld des virtuellen ökumenischen Kirchentags in Frankfurt im kommenden Mai hat sich ein Konfliktthema zwischen den evangelischen Gliedkirchen der EKD mit den Katholiken (und auch innerhalb der katholischen Kirche) ergeben: die eucharistische Gastfreundschaft. Welche Bedeutung hat dieses Thema für Sie?

Martin Junge: Auf der gemeinsamen Gedenkfeier der Reformation in Lund, Schweden (2016) unterzeichneten Papst Franziskus und der damalige LWB Präsident, Bischof Munib Younan, eine Erklärung, die unter anderem den folgenden Passus enthält:
“Viele Mitglieder unserer Gemeinschaften sehnen sich danach, die Eucharistie in einem Mahl zu empfangen als konkreten Ausdruck der vollen Einheit. Wir erfahren den Schmerz all derer, die ihr ganzes Leben teilen, aber Gottes erlösende Gegenwart im eucharistischen Mahl nicht teilen können. Wir erkennen unsere gemeinsame pastorale Verantwortung, dem geistlichen Hunger und Durst unserer Menschen, eins zu sein in Christus, zu begegnen. Wir sehnen uns danach, dass diese Wunde im Leib Christi geheilt wird. Dies ist das Ziel unserer ökumenischen Bemühungen. Wir wünschen, dass sie voranschreiten, auch indem wir unseren Einsatz im theologischen Dialog erneuern”.
Diese Worte geben präzise wieder, warum der gegenwärtige Zustand theologisch und pastoral nicht haltbar ist und warum es eilt, die Grundlagen herzustellen, so dass sich die Getauften um den Tisch des Herrn versammeln können. Weitaus mehr als ein persönliches Anliegen, handelt es sich also um ein Anliegen, dem versöhnenden und Einheit stiftenden Werk Gottes in Christus nun auch im Leben der Kirche Gestalt zu geben und zu einer starken Botschaft inmitten unserer so zerrissenen und in Konflikten verbissenen Welt werden zu lassen. Es geht um die Kirche, und um ihr Zeugnis in der Welt.
Die Erklärung von Lund ist eine starke gemeinsame Grundlage und Verpflichtung zwischen der Katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund. Sie hilft uns dabei, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, auch dann, wenn theologische Sachverhalte besprochen werden, manchmal durchaus auch kontrovers. Die Einheit am Tisch des Herrn will theologisch verantwortet, und muss für die beteiligten Kirchen theologisch tragbar sein.
Es wird Hoffnung, Mut und theologischen Scharfsinn brauchen, um die bereits von Gott gestiftete Einheit für uns anzunehmen. Ich weiß, dass dies passieren wird: Gott bahnt sich in der Kirche und in der Welt immer wieder einen Weg!

Wie sehen Sie die Evangelisch-Lutherische Kirche in Italien?

Martin Junge: Mit großer Sympathie! Vielleicht, weil sie mich so sehr an meine eigene Kirche in Chile erinnert: eine kleine Kirche, in einer Minderheitssituation, in einem römisch-katholischen Kontext. Diakonisch engagiert, ökumenisch aktiv, zweisprachig…
Minderheitskirchen in Europa sind der Vorbote einer Realität, mit der sich in der Zukunft auch so genannte Volkskirchen werden befassen müssen. Denn der Prozess der Säkularisierung geht raschen Schrittes voran. Kirchen dürfen nicht mehr darauf warten, dass Familien ihre Kinder zur Taufe bringen, sondern müssen aktiv dazu einladen, müssen erklären, warum die Taufe so wichtig ist. Kirchen werden nicht mehr voraussetzen dürfen, dass Kerninhalte des christlichen Glaubens und ihrer biblischen Grundlagen bekannt sind, sondern müssen diese geduldig vermitteln. Kirchen werden sich und ihr Dasein erklären müssen – das kennen Sie in Italien sicherlich genauso, wie wir in Chile: Lutherisch? Ach so… (manchmal von betretenem Schweigen gefolgt…). Was ist das, warum, wieso, wozu? Dann müssen wir Rede und Antwort stehen. Und das ist vielleicht gar nicht einmal so verkehrt.
Ich wünsche mir Kirchen in Minderheitssituation, die nicht in einen Minderwertigkeitskomplex verfallen, sondern sich ihrer Gaben für die Gesamtkirche bewusst sind und diese auch einbringen. An die ELKI gerichtet: Sie haben in ihrer Kirche ein Wissen und Fertigkeiten, von denen andere Kirchen in Zukunft massiv abhängen werden. Als LWB müssen wir die Lernmöglichkeiten so gestalten, dass numerische Größe nicht gleich bedeutet: Wer groß ist, weiß alles, wer klein ist, hat keine Ahnung.
Eine Vision, die meine Zeit als Generalsekretär sehr stark geprägt hat, sind die Worte des ersten afrikanischen LWB-Präsidenten, des tansanischen Bischofs Josiah Kibira, 1975:
„Ich bin überzeugt, dass es keine Kirche gibt, die so groß, so mächtig und so etabliert ist, dass sie nicht von anderen lernen könnte; noch, dass es Kirchen gibt, die so klein, so prekär aufgestellt, und so neu sind, dass sie nichts anzubieten hätten“.
Das ist das Ethos, das den LWB bewegt und prägt, dies ist die Art und Weise, wie sich Kirchen im LWB begegnen wollen. Zugegeben: wir sind noch dabei zu lernen. Es soll der Grundsatz gelten: nicht die Mitgliederzahl macht eine Kirche stark, sondern ihre Verortung im Evangelium Jesu Christi, und das Zeugnis, das sie den Menschen diesbezüglich anbietet. Darum mein Wort an die zahlenmäßig kleine ELKI: lassen Sie sich niemals kleinmachen!