Rom, 24. Januar 2023 – Die Verhaftung von Matteo Messina Denaro am 18. Januar ist bis heute von einigen Kuriositäten geprägt.
Ein großes Thema kommt in Messina Denaros Leben bisher nicht vor, das aber im Leben der Mafiabosse der Generation davor sehr präsent war: die Religion.
Am 11. April 2006, als Bernardo Provenzano nach 43 Jahren auf der Flucht verhaftet wurde, fand man in seinem Versteck zwischen den Decken seines ungemachten Bettes einen hölzernen Rosenkranz.
Auf dem Kopfkissen eine aufgeschlagene Bibel. Mit einer zerknitterten Seite und einem rot hervorgehobenen Vers: Lukas 6:44: Ein jeglicher Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt. Auf dem Nachttisch vier weitere Bibeln, die auch als Verschlüsselungscode für Nachrichten zwischen Mafiosi verwendet wurden.
In Matteo Messina Denaros bisher entdeckten Verstecken wurden Plakate von Francis Ford Coppolas Der Pate, Joaquin Phoenix’ Joker gefunden, und ein Satz: „Es gibt immer einen Ausweg. Aber wenn du ihn nicht findest, durchbrich alles“.
Keine „pizzini“, Papierzettel mit geheimen Botschaften, die von Boten überbracht werden, zumindest bis jetzt nicht. Keine Geheimarchive und auch keine religiösen Symbole, geschweige denn eine Bibelsammlung.
Schmuck, Edelsteine, Tafelsilber, aber auch Fotos von wilden Tieren, Kühlschrankmagnete mit dem Bild eines Mafiabosses im Smoking und darunter geschrieben „Der Pate bin ich“. Im Bücherregal seines Verstecks schließlich, neben Büchern über Geschichte und Philosophie, zwei Biografien: eine über Putin, die andere über Hitler.
Hat sich also das Verhältnis der Mafia zur Religion verändert?
Die Person des Matteo Messina Denaro ist ein Sinnbild dieser Welt. Dass die eher „libertine“ Haltung des Bosses von Castelvetrano in eklatantem Widerspruch zu bestimmten moralischen Geboten der römisch-katholischen Kirche stand, war bereits bekannt.
Dennoch darf man diese Eigenschaft nicht einfach als etwas beschreiben, das „ihn“ betrifft und nicht den kriminellen Kontext, dessen Bezugspunkt er ist. Messina Denaro ist ein nicht weniger pragmatischer Mafioso als seine Vorgänger. Aber er repräsentiert eine Mafia, die den Schwerpunkt ihrer Werte von einer verzerrten Interpretation und Verschleierung christlicher Werte auf die konkreteren Leitbilder wie Geschäft, Wirtschaft und Machtinteressen verlagert hat.
Diese „Säkularisierung“ der Mafia-Gesellschaft sollte jedoch nicht überraschen: Die Cosa Nostra hat es schon immer verstanden, ihre Existenz mit den Geschehnissen um sie herum in Einklang zu bringen, und der religiöse Einfluss auf die Gesellschaft ist heute weniger stark ausgeprägt als in der Vergangenheit.
Der Boss braucht also keine Vermittler, um sein Handeln und seine Existenz im Rahmen traditioneller und religiöser Bezüge verständlich zu machen.
Sein Handeln erfolgt unabhängig von der Religion, und die Religion wird allenfalls den Zielen dienlich sein, die er verfolgen will. Und wirklich nur dann, nicht mehr als allgemeines Wertegerüst.
Matteo Messina Denaro gleicht eher einem gewöhnlichen Bürger, einer gewöhnlichen Bürgerin: wenig geneigt zur religiösen Verherrlichung und mehr an Edelsteinen interessiert als an der „kostbaren Perle“ (Matthäus 13).
Haben die Mafiosi ihren Glauben verloren?
Wahrscheinlich und ganz einfach ist der Glaube nicht das Mittel, durch das sie heute soziale Anerkennung vermitteln, die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die eng, zu eng geworden ist. Während die Mafiosi immer größer und größer denken.
Das bedeutet nicht, dass Messina Denaros Leben im Untergrund von christlichen Italienern weniger gedeckt wurde. Vielleicht sogar von religiösen, wer weiß.
Fakt ist aber auch, dass sich die kirchlichen Hierarchien der römisch-katholischen Kirche in den letzten Jahren bewusster dafür eingesetzt haben, die Grauzonen zugunsten des Mafia-Phänomens einzudämmen, als in einer Vergangenheit der Duldung, des Schweigens oder der Selbstgefälligkeit.
Getrieben einerseits von den Morden, die dem Leben einiger Priester wie zum Beispiel Don Pino Puglisi in Palermo ein Ende setzten. Zum anderen aber auch vom Handeln anderer Kirchen, die die Unvereinbarkeit des mafiösen Systems mit dem Evangelium nachdrücklich bekräftigten.
Messina Denaros Änderung der Einstellung könnte als Unvereinbarkeit des Mafioso-Daseins mit der Religion erscheinen. Wobei die Gefahr besteht, dass dies nur eine weitere Manifestation der chamäleonartigen Fähigkeit der Cosa Nostra ist, sich der Zeit anzupassen. Ja, sie sogar vorwegzunehmen.
Welche Rolle spielen die Kirchen in einer neuen Anti-Mafia-Saison?
Das hängt von der Religion ab. Besser gesagt, von den Religionen. Die Festnahme eines Bosses, der eine Art Mafia-Mythologie mit nicht wenigen „romantischen“ und filmischen Konnotationen verkörperte, kann für die Kirchen eine Gelegenheit sein, dem Anti-Mafia-Engagement eine neue Bedeutung und eine neue Perspektive zu geben.
Dabei darf nicht unterschätzt werden, wie sehr dieses Engagement im Laufe der Zeit an Glanz verloren hat und wie es selbst innerhalb der so genannten zivilen Anti-Mafia langsam in eine gewisse Routine mit einigen Ungereimtheiten und Widersprüchen abgerutscht ist.
Eine ökumenische Perspektive also, die die von jeder Kirche eingeschlagenen Wege zusammenführt, damit die „mafiöse Häresie“ unter den Christen keinen Raum und kein Schweigen findet. Ein Hinterland, das zum Teil schon bebaut wurde, zum Teil zu bebauen ist und das heute sowohl eine Herausforderung als auch eine Berufung darstellt.
Außerdem ist die heutige Realität der Mafia nicht mehr die einer kriminellen Organisation, die mit einem christlichen Wertesystem verbunden ist, das die Mitglieder in der kriminellen Praxis ihrer Handlungen umzusetzen versuchen.
Im Jahr 2010 schrieb die italienische Bischofskonferenz: „Mafias sind die dramatischste Form des Bösen und der Sünde. Unter diesem Gesichtspunkt können sie nicht einfach als Ausdruck einer verzerrten Religiosität interpretiert werden, sondern als eine brutale und verheerende Form der Ablehnung Gottes und des Missverständnisses der wahren Religion: Mafias sind Strukturen der Sünde”.
Die Beteiligung der Kirchen an der aktuellen öffentlichen Debatte über die Verhaftung von Messina Denaro ist daher nicht nur eine Bekräftigung, auf welcher „Seite“ der Geschichte sie stehen. Sie bedeutet, die Grenzen neu zu ziehen, innerhalb derer unser Glaube lebt oder stirbt. Sie ist die Prüfung, ob wir als Lutheraner in der italienischen Gesellschaft in der Lage sind, die Gefahr der Gleichgültigkeit und die Bedeutung unseres Zeugnisses zu definieren.
Unseres Zeugnisses in der Welt, in die uns der Herr gestellt hat.
Literatur zur vertiefenden Lektüre:
- P. Grasso und A. La Volpe, Per non morire di mafia, Sperling & Kupfer, Mailand, 2009
- R. Sciarrone, Alleanze nell’ombra: Mafie ed economie locali in Sicilia e nel Mezzogiorno, Donzelli Editore, Rom 2011.
- A. Dino, La mafia devota, Editori Laterza, Bari, 2008.
- A. Esposito, Le Mafie e la Chiesa: analisi criminologica di un rapporto controverso, 2018.