Endlich Sommerzeit, endlich Ferienzeit – schier endlose Wochen der Freiheit und des Ungebundenseins, lange herbeigesehnt von so vielen unserer Kinder und Jugendlichen mitsamt ihren Familien. Bei einigen mischt sich in die vorfreudige Stimmung auch ein mulmiges Gefühl: Wer soll die Kinder über einen so großen Zeitraum hinweg beaufsichtigen? Ob es uns gelingen wird, in den freien Tagen größeren Familienstreitigkeiten aus dem Weg zu gehen? Und wie können wir die zahlreichen Ferientage sinnvoll füllen, so dass die Zeit auch abseits des durchgetakteten Schulalltags halbwegs strukturiert bleibt und die Kinder den Rhythmus des Lernens nicht ganz verlieren?
Im römischen Stadtviertel Tor Marancia bin ich kürzlich auf ein Streetart-Motiv gestoßen, das der französische Künstler Seth im Jahr 2015 dort auf der Fassade eines Wohnhauses verewigt hat: Auf einer mit Buntstiften selbst gezeichneten Leiter ist dort ein Junge zu sehen, den Kopf in den Himmel gereckt. Weil er die bunten Leitersprossen erklommen und sich auf Zehenspitzen gestellt hat, kann er über die Fassade seines tristen Wohnblocks hinaus direkt in den Himmel schauen. Das Motiv, so erfahre ich, hat einen konkreten, traurigen Hintergrund: Die schwarz-weiß gezeichnete Kindergestalt zeigt den kleinen Luca, der einst in jenem Haus lebte. Beim Spielen auf der Straße wurde er eines Tages von einem vorbeifahrenden Auto erfasst und verunglückte tödlich. Dass sein Kopf auf dem überdimensionalen Bild nun in den Himmel reicht und ins Unendliche blickt, erinnert damit nicht zuletzt an die Tragik des Geschehenen.
Gleichzeitig zeigt der Künstler: Das Spiel ist keinesfalls sinnlos, sondern im Gegenteil notwendig. Denn im gedankenverlorenen Spielen kann das Kind wachsen, ja, es macht Erfahrungen, die es im wahrsten Sinne des Wortes über sich hinauswachsen lassen. Dort findet ganz nebenbei Lernen statt, dort wird die eigene, kleine Lebenswelt transzendiert und ins Grenzenlose hin geweitet. Freiheit und Ungebundensein werden spielend erlebt. Im Spiel ist alles möglich. Im Spiel erschafft man neue Welten.
Eine Passage im Alten Testament thematisiert diese schöpferische Kraft des Spiels. Im Buch der Sprüche kommt dort die personifizierte Weisheit zu Wort, als eine Augenzeugin der Schöpfung:
„Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er den Erdkreis abmaß über den Wassern,
als er droben die Wolken befestigte und Quellen strömen ließ aus dem Urmeer,
als er dem Meer sein Gesetz gab und die Wasser nicht seinen Befehl übertreten durften, als er die Fundamente der Erde abmaß,
da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit.
Ich spielte auf seinem Erdenrund und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein.“
(Sprüche 8,27-31)
Spielen und Weisheit werden hier unmittelbar verbunden. Das Spiel wird uns damit als eine zutiefst sinnvolle, ja sogar „weise“, Tätigkeit vorgestellt.
Trauen wir also der schöpferischen, im wahrsten Sinne „kreativen“ Kraft des Spiels etwas zu. Freuen wir uns daran, wenn unsere Kinder gedankenverloren in ein Spiel vertieft sind. Schaffen wir Freiräume, damit sie das unbesorgt tun können.
Suchen wir nicht zuletzt auch als Erwachsene für uns Momente, in denen wir einmal völlig zweckfrei einer Tätigkeit nachgehen können – vielleicht ja schon in diesen Ferienwochen.
Pfarrerin Vanessa Bayha
Studienleiterin des Melanchthon Zentrums Rom
Foto: privat