Diese Woche, am 11.11., war der Martinstag. St. Martin, auch bekannt als Martin von Tours, ist einer der wenigen Heiligen, die in der evangelischen Kirche schon immer einen besonderen Status hatten. Und auch außerhalb der Kirche gibt es bis heute viele Traditionen, die mit diesem Tag verbunden sind: Überall in Deutschland, wo ich als Pfarrer tätig war, bevor ich nach Triest kam, gibt es Laternenumzüge oder Martinsumzüge. Die ersten Martinsgänse werden geschlachtet. Und in katholischen Gegenden beginnt die Karnevalssaison um 11:11 Uhr morgens.
Martin war ein römischer Soldat und der Legende nach etwa 18 Jahre alt, als er an einem eiskalten Tag einem Bettler begegnete, der am Straßenrand saß, fast unbekleidet, am Ende seiner Kräfte und dem Tod durch Erfrieren nahe. Es wäre für Martin ein Leichtes gewesen, diesen Unglücklichen zu ignorieren und auf seinem Pferd vorbeizureiten. Bettler gab es überall. Und ein Menschenleben war in jenen Tagen nicht viel wert. Doch etwas Ungewöhnliches geschah: Martin hielt an, öffnete seinen Mantel und zerschnitt ihn mit seinem Schwert in zwei Teile. Die eine Hälfte gab er dem vor Kälte zitternden Mann und zog die andere an. Dann verschwand er. Es war eine sehr kurze Begegnung. Aber in der folgenden Nacht hatte Martin einen Traum: Christus selbst begegnete ihm; er sah aus wie der Bettler am Straßenrand, mit dem Martin seinen Mantel geteilt hatte. Und Martin hörte die Stimme Christi: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.
Martins Geschichte ging weiter, bis er – gegen seinen eigenen Willen – sogar zum Bischof geweiht wurde. Die Menschen wollten unbedingt, dass ein so guter Mann ihr Bischof wird. Aber Martin dachte sich nichts dabei. Zufälligerweise hatten einige schnatternde Gänse sein Versteck verraten, in das er sich vor der Menge zurückgezogen hatte. Das ist auch der Grund, warum der Legende nach zum Martinsfest Gänse geschlachtet werden.
Martins Geste war sehr einfach. Er zog seinen Mantel aus und schnitt ihn mit einem Schwerthieb ab. Eine einfache Geste, und doch eine große Geste! Für die Waffenträger gibt es nichts Leichteres, als ihre Waffen zu benutzen, und umgekehrt nichts Schwierigeres, als mit ihnen Gutes zu tun. Leider erleben wir das auch heute noch, wenn so viele Länder unter Terror ächzen.
Was Martin damals, vor rund 1600 Jahren, tat, war kein christliches Handeln. Er war zu dieser Zeit nicht einmal getauft. Was er tat, war rein menschlich!
Von der offensichtlichen Not des Mannes ergriffen, zögert Martin nicht lange, sondern tut etwas, das ihm sofort hilft. Er hat den Bettler weder einer Armenanstalt – heute würden wir wohl sagen: einer Stadtmission – anvertraut, noch hat er ihn hilflos seinem Schicksal überlassen, sondern er hat Menschlichkeit gezeigt. Und Menschlichkeit zeigen ist manchmal ganz einfach!
Mit seiner Geste hat er die Verhältnisse nicht verändert. Der Bettler blieb arm. Aber Martin sah genau hin. Er hat einen anderen Menschen wahrgenommen.
Wo wir andere Menschen wahrnehmen, ist Jesus Christus gegenwärtig. In jedem Menschen, dem wir begegnen und der unsere Hilfe braucht, kann uns Christus direkt begegnen: Landsleute, Freunde, Kollegen oder Flüchtlinge, die Schutz vor Krieg suchen. Gerade in der kommenden Advents- und Weihnachtszeit gibt es leider viel zu viele Menschen, die unsere Hilfe brauchen.
Jeder kann helfen. Jedem kann etwas einfallen, auch die kleinste Geste, damit es anderen besser geht. Denn das ist es, was zählt: Wenn ich jemandem helfe, nehme ich ihn wahr. Ich sage damit: Du bist mir wichtig. Du gehörst zu uns.
Pfarrer Andrei Popescu, Triest