Zeit, sich ordentlich anstecken zu lassen
Ich habe gerade so ein bisschen die Nase voll von ansteckenden Geschichten. Sommergrippe, Corona-Virus, Affenpocken, Schweinepest, die Natur scheint sich ja geradezu darin überbieten zu wollen, immer neue Krankheitserreger zu erfinden und flott auszubreiten. Beim Wort ansteckend krieg ich schon einen dicken Hals und leichte Atemnot. Was bin ich dann froh, wenn mich unerwartet jemand anlächelt, und sich plötzlich auch in meinem Gesicht spürbar die Gesichtszüge entspannen. Angesteckt, von einem Lächeln?!
Wissenschaftliche Studien haben nun herausgefunden, dass sogar Altruismus, also selbstloses Verhalten, ansteckend sein kann. Etwa wenn ein Autofahrer sieht, dass jemand am Straßenrand einem anderen Autofahrer bei einer Reparatur behilflich ist, verdoppelt sich fast die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst wenige Hundert Meter weiter anhält, um dort seinerseits einem Autofahrer beim Reifenwechsel zu helfen. Doch damit nicht genug. Der, der wegen dem anderen, den er beobachtet hat, selbst angehalten hat, erzählt das bei einem Glas Bier einem Freund – und jetzt kommt es – der nun, vom bloßen Hören der Geschichte angeregt, seinerseits einem Dritten hilft. Großzügigkeit ist wirklich tückisch ansteckend. Auf einen Infizierten kommen so leicht zwei weitere. Das ist ja kaum mehr in den Griff zu bekommen. Bestimmt hat Jesus auch deshalb die Beispiel-Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt. Die einen hören es von Jesus, andere von ihren Nachbarn oder Eltern, wieder andere … – und nehmen sich ein Beispiel. Das läuft nun schon so seit 2000 Jahren. Da könnte einem ja fast das Bild von dem ins Wasser geworfenen Stein in den Sinn kommen, der immer weitere Kreise zieht.
Leider funktioniert das mit allem, was ins Wasser geworfen wird, auch mit den weniger schönen Dingen, so dass auch daraus ein Teufelskreis werden kann. Wenn ich nämlich glaube, dass ohnehin jeder nur auf sich selber schaut und sich am nächsten ist, dann vergeht tatsächlich auch mir die Lust, mit anderen zu kooperieren. Das eigene Menschen- und gewiss auch Gottesbild ist also entscheidend für unser Verhalten und letztendlich dafür, auf was für einem Planeten wir leben. Wie lange man mit einer Reifenpanne verloren am Straßenrand stehen muss und wann einen das erste Lächeln wieder in Fahrt bringt.
31.08.2022
Pfarrer Michael Jäger, Bozen