„Streiten will gelernt sein”, sagt ein altes Sprichwort. Der Streit ist das Lebenselixier der Demokratie. Aber wie streitet man? Gutes Streiten scheint den Menschen zunehmend schwerer zu fallen. Die sozialen Medien zeigen: Es eskaliert sehr schnell. In christlichen Kreisen ist hingegen Harmonie das „große Zauberwort”. Alles soll nach Möglichkeit einstimmig und harmonisch ablaufen.
Der Epheserbrief ist da realistischer. Er rechnet fest damit, dass wir einander zürnen. Dafür gibt er zwei glasklare Regeln vor. Erstens: Zürnen ja, sündigen nein.
Zweitens: Der Zorn darf die Schwelle zur Dunkelheit nicht überschreiten.
Zürnt ihr, so sündigt nicht!
Oh ja, diese Ermahnung brauche ich manchmal. Auch, wenn ich es nicht gerne zugebe.
Zorn hat die eruptive Kraft eines Vulkans. Glühend kann er sein, mich rasend machen. Als sei ich von Sinnen. Er zeigt mir eine bedrohliche Seite in mir, die mir fremd ist. Gern würde ich sagen, sie gehöre nicht zu mir. Einfach leugnen. „Das war ich nicht”. So wie damals als Kind.
Wenn ich zornig bin, habe ich manchmal Rachefantasien, in denen ich sehr kreativ sein kann. „Dem werde ich’s zeigen!” Hinterher erschrecke ich dann über mich selbst und schäme mich: Wie konntest du so außer dir sein? Zorn hat geradezu verführerische Kräfte. Wenn ich ihnen folgte, könnte ich Dinge tun, die ich später bereue.
Zürnt ihr, so sündigt nicht.
Erkunde die Möglichkeiten, die du hast, sagt diese Ermahnung im zweiten Schritt. Welche Rolle willst du dem Zorn einräumen auf der Bühne des Lebens?
Klar, ich kann meine Wut hegen und pflegen und nähren. Kann mich wieder und wieder an die Anlässe erinnern, die sie auslösen. Ich führe mir die alten Szenen vor Augen, bis die Wut wieder hochkocht in mir. Dann wird der Zorn zum Groll, der die Macht hat, mein Leben bitter zu machen, ja, es zu vergiften.
Herunterschlucken möchte ich meinen Zorn aber auch nicht. Er liegt so schwer im Magen und rumpelt in mir weiter wie Wackersteine. Manchmal lähmt er mich geradezu, macht mich handlungsunfähig oder gar depressiv.
Zürnt ihr, so sündigt nicht.
Gib dem Zorn nicht die Macht über dich, sagt mir der Satz als drittes. Tritt einen Schritt zurück, damit du Distanz zu ihm gewinnst. Und schau ihn eine Weile von außen an. Nimm ihn genau wahr, erkunde ihn und sortiere seine Facetten.
Was ist hässlich und destruktiv: Welche Türen schlägt die Wut zu, wenn ich mich ihr überlasse?
Wo kann ich meinen Zorn verrauchen lassen? Vielleicht lässt sich ein Fenster öffnen, damit die dicke Luft abziehen und ich freier atmen kann.
Wann täte ein reinigendes Gewitter gut, das frische Luft mit sich bringt und mich klarer sehen und handeln lässt?
Und wo steckt ein geradezu heiliger Zorn in mir, Zorn, den ich mir bewahren möchte?
Wie lässt sich dessen eruptive Kraft in Bahnen lenken, damit er sein kreatives Potential entfalten kann? Und: Wo finde ich Verbündete, damit er zum Nährboden wird, der Gutes hervorbringt?
Zürnen will wie Streiten eben gelernt sein. Zürnen über Missstände und sich mit heißem Herzen für Recht, Gerechtigkeit einsetzen – ja, unbedingt! Aber dabei: immer zwischen der Sünde als Tat und dem Sünder als Mensch unterscheiden! Jesus hat in seinem heiligen Zorn die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben (Johannes 2,15ff). Da fliegen Geld und Tische durch den Tempel, aber Jesus hat weder Händler noch Geldwechsler oder Tiere verletzt oder gar getötet. Konkret: Auch in unserem Zorn sollen wir nach bestimmten Regeln verfahren.
Nur, wenn man zwischen Person und Tat unterscheidet, dann kann man auch abends den Zorn beerdigen und ruhig in der Nacht schlafen.
Gebet: Verwandlung
Guter Gott,
ich möchte lernen, meine Wut am Abend dir zu überlassen,
eine Nacht darüber zu schlafen und sie am Morgen verwandelt vorzufinden.
Manchmal staune ich, was du und die Zeit daraus machen können:
Unbeirrbaren Mut, kreative Ideen, versöhnliche Worte.
Hilf mir, die Sonne nicht über meinem Zorn untergehen zu lassen,
aus Liebe zu dir, zu meinen Mitmenschen und zu mir selbst. Amen
Pfarrerin Kirsten Thiele, Neapel